Kathrin Kammerer
Kathrin Kammerer zog mit ihrer Kamera durch Tübingen und portraitierte Menschen der Neckarstadt. »Humans of Tübingen« nannte sie ihr Projekt in Anlehnung an das große Vorbild aus den USA, die »Humans of New York«. Doch Tübingen ist nicht der Big Apple und da hier sowieso jeder jeden kennt, bleiben die Portraitierten nicht anonym. Genauso wenig, wie die Künstlerin. MORITZ stellt sie und ihr Projekt vor.
Menschen wie du und ich – es sind meistens die ganz gewöhnlichen Einwohner einer Stadt diejenigen, die außergewöhnliche Geschichten zu erzählen haben. Guckt man nach links, guckt man nach rechts, man findet an jeder Ecke, in jeder Person etwas Spannendes. Der US-amerikanische Fotograf Brandon Stanton hat dies erkannt und vor gut einem Jahr seinen Fotoband »Humans of New York« herausgebracht, der sofort zum Bestseller avancierte. Darin portraitiert er Menschen, die er auf der Straße trifft. Sie erzählen ihm ihre Geschichten. Das Projekt hat Nachahmer gefunden.
Nach dem Vorbild von »Humans of New York«
So wie die Tübinger Studentin Kathrin Kammerer. Im Zuge ihres Studiums der Medienwissenschaften griff sie gemeinsam mit zwei Kommilitonen für ein Seminar die Idee der »Humans of New York« auf und übertrug diese auf die Unistadt. Es war die Geburtsstunde für »Humans of Tübingen«. Mit einer Videokamera in der Hand machten sich die engagierten Studenten auf, die Gesichter der Neckarstadt zu finden und in bewegten Bildern deren Geschichten zu erzählen. Als das Seminar-Projekt abgeschlossen war, war der Trennungsschmerz so groß, dass Kammerer sich dazu entschließ, es in Eigenregie fortzuführen. Denn auch mit dem Ende des Seminars brachte sie es nicht übers Herz, das Projekt sterben zu lassen. »Das war mein Baby«, sagt die 22-jährige Studentin. »Und das konnte ich doch nicht einfach sterben lassen.« Sie führte die »Humans« in Eigenregie weiter, ersetzte die Filmkamera durch einen Fotoapparaten und gab die bislang vorherrschende Anonymität der Portraitierten auf. »Das passt nicht zu Tübingen«, sagt die aus Zimmern ob Rottweil stammende Frau. »Hier kennt eh jeder jeden.« Insgesamt 60 mehr oder minder bekannter Gesichter der Stadt hat sie seitdem fotografiert, ihre Geschichte aufgeschrieben und die Portraits auf Facebook veröffentlicht.
Kein Problem, interessante Menschen zu finden
Interessante Menschen in der Unistadt zu finden, war nicht schwierig. »Es war ein Selbstläufer«, sagt Kammerer, »Und nach jedem Portrait hatte ich fünf weitere Namen. Zu Hause habe ich eine Liste mit mehr als hundert Leuten, die auch noch super wären.« Ob Trottwar-Verkäufer, Unternehmer, Kneipier, Künstler, Sportler oder Motorradclub – die Studentin kennt keine Berührungsängste. »Ich wollte eine bunte Mischung aus Tübinger Urgesteinen und Leuten, die für jüngere Leute interessant sind, zeigen«, erzählt sie. Bei der Auswahl der Leute habe sie sich auf ihr Bauchgefühl verlassen. Den Kontakt zu den Meisten herzustellen war nicht schwer. Einige sprach sie spontan bei Streifzügen durch die Stadt an, andere kontaktierte sie per Telefon oder über das Internet. »Am schwierigsten war es bei der Fußballerin Kim Kulig«, erzählt Kammerer schmunzelnd. »Ich musste erstmal ihren Vater davon überzeugen, dass ich kein Paparazzo bin.«
Ausstellung und eine ungewisse Zukunft
Aktuell stellt die Studentin ihre Portraits und Geschichten im Tübinger Collegium aus. Passend dazu ist auch das Buch »Humans of Tübingen« erschienen. Damit hat sie den ersten Kreis zunächst geschlossen. Ob sie ihr zeitintensives Hobby aber auch in Zukunft weiterführen wird, lässt sie offen. Wenn, dann müsste sie ohne lange Pause gleich die nächsten Portraits bringen. »Da muss man dranbleiben, sonst schläft das ein«, weiß Kammerer. Speziell die Facebookseite muss spätestens alle vier Tage aktualisiert werden. »Man soll aufhören, wenn es am Schönsten ist«, sagt sie. »Die Wahrscheinlichkeit, dass ich aufhöre, liegt momentan bei siebzig Prozent.« Entschieden sei aber noch nichts. Ihre Konzentration gilt zunächst ihrem Studium, um ihrem großen Ziel, eine Journalistin zu werden, näher zu kommen. Sie treffe gerne Menschen und interessiere sich für ihre Geschichten, sagt sie. »Die Herausforderung ist, in einer halben Stunde eine interessante Story aus seinem Gesprächspartner herauszuholen.« Dass sie das beherrscht, zeigen die »Humans of Tübingen«.