Nicht umsonst wird das Thema „Liebe ohne Rücksicht auf Verluste“ immer wieder zum Literaturtrend:
Dass die Empfindungen von Einzelnen als radikal ausgelebter Gegenentwurf zum zivilen Miteinander auch mal Formen des friedlichen Zusammenlebens sprengen können, hat Verführungskraft. Johann Wolfgang von Goethes Sturm und Drang-Klassiker Die Leiden des jungen Werthers von 1774 ist als teils autobiographisches, teils dem Suizid eines Bekannten nachempfundenes Selbstmordprotokoll weltberühmt geworden. Goethe selbst zeigte sich lange beunruhigt vom Werther, mit dem er sich von seiner unglücklichen Liebe zur verheirateten Charlotte Buff „geheilt“ hatte. Noch 1824 sagte er darüber: „Es sind lauter Brandraketen! – Es wird mir unheimlich dabei und ich fürchte, den pathologischen Zustand wieder durchzuempfinden aus dem es hervorging.“ Der Franzose Jules Massenet setzte in seiner Interpretation dieses Trendsettertexts einer ganzen europäischen Generation 1892 noch einen drauf: Mit überbordend emphatischer Musik zeichnet er Werther als Emotions-Terroristen, auf dessen Versprechen eines anderen Lebens sich Charlotte gefährlich weit einlässt. Regisseur Felix Rothenhäusler und sein Team haben mit Dirigent Marc Piollet einen musikalisch-szenischen Raum kreiert, der Werther und Charlotte in eine Arena des außersich- Geratens wirft und fragt, welche Intensitätserfahrung wir im Theater suchen. Einen „Werther-Effekt“ – Suizide, die denjenigen einer fiktiven Figur nachahmen – hat die Oper bisher (zum Glück!) nicht provoziert, obwohl der Ausnahmezustand ihr Kerngeschäft ist. Liebe allerdings, so die These, wird in radikaler Bejahung das Gewohnte in Brand setzen.