»Es geht nicht darum, Vergangenheit zu bewältigen. Das kann man gar nicht. Sie lässt sich ja nicht nachträglich ändern oder ungeschehen machen. Wer aber vor der Vergangenheit die Augen verschließt, wird blind für die Gegenwart.«
Die Rede von Bundespräsident Richard von Weizsäcker vom 8. Mai 1985, 40 Jahre nach dem Ende des Zweiten Weltkriegs, hat heute noch dieselbe Gültigkeit wie damals.
2020 jährt sich dieses Datum zum 75. Mal. Am 9. November 2019 ist zudem der 30. Jahrestags des Mauerfalls. Zwei bedeutende historische Ereignisse, die das Programm der neuen Spielzeit am Theater Heilbronn prägen. »Umbrüche« lautet denn auch das Motto. Es zieht sich durch die gesamte Saison und alle Spielstätten. Überall stoße man auf Umbrüche, sagt Intendant Axel Vornam, auf fehlende Antworten, Unvermögen und fehlendes Vertrauen in die Demokratie. Das erleichtere es manchen Personengruppen »mit simplen Lösungsvorschlägen als Rattenfänger durch die Welt zu laufen«.
Mit Autoren wie Heiner Müller, Lukas Rietzschel oder Max Frisch wird auf die Zäsuren in der Deutschen Geschichte und deren Auswirkungen auf den Einzelnen geschaut. Wie sind wir geworden, wer wir sind? Was hat uns beeinflusst? Diesen Fragen spüren die Heilbronner Theatermacher auf vielfältige Weise nach. Es gehe darum, das Wesen hinter den Erscheinungen zu verstehen, den Zusammenhang von Ursache und Wirkung herzustellen und die Triebkräfte der gesellschaftlichen Entwicklung zu erkennen, so der Intendant.
Großes Haus
Auf dem Programm stehen Autoren wie Heiner Müller, der mit seinem letzten Stück »Germania 3 Gespenster am toten Mann« (Premiere am 5. Oktober 2019 im Großen Haus) das 20. Jahrhundert beleuchtet. Mit dem jungen Autor Lukas Rietzschel und der von Thomas Martin für das Theater Heilbronn erstellten Dramatisierung seines Romans »Mit der Faust in die Welt schlagen« (Premiere am 18. Januar im Großen Haus) wird nach den Gründen der verzweifelten Frustration in den »blühenden Landschaften« Ostdeutschlands gefragt.
Die musikalische Revue »Born to Be Wild?« von Kai Tietje, Stefan Huber und Andreas Frane (Premiere am 14. März 2020 im Großen Haus) spürt dem musikalischen Erbe der legendären 68er nach. Unübersehbar sind die Parallelen zu heute in Max Frischs Parabel »Biedermann und die Brandstifter« (Premiere am 2. Mai 2020 im Großen Haus), in der die bürgerlichen Biedermänner mit den politischen Brandstiftern an einem Tisch sitzen.
BOXX
In der BOXX steht »Die Lächerliche Finsternis« von Wolfram Lotz (Premiere am 25. April 2020) auf dem Plan. In diesem klugen, doppelbödigen Stück wird vorgeführt, dass die Krisenherde von heute Ergebnisse des Kolonialismus und der aktuellen westlichen Wirtschaftspolitik sind. Eine ganze Veranstaltungsreihe ist dem Thema »30 Jahre Deutsche Einheit« gewidmet. Unter dem Titel »Erinnerung ist Liebe zur Zukunft« finden monatliche Lesungen, Vorträge, Gesprächsrunden und Filmabende in Kooperation mit dem Kinostar Arthaus-Kino statt. Ein weiteres neues Veranstaltungsformat ist die »StreitBar«. Hier ist das Publikum im Anschluss an ausgewählte Vorstellungen eingeladen, an der Bar im Rangfoyer mit dem Inszenierungsteam und Schauspielern über die Inszenierungen zu diskutieren.
Umbrüche ganz anderer Art
Auch Umbrüche ganz anderer Art prägen derzeit die gesellschaftlichen Diskussionen. In Sachen Geschlechterklischees, neuem weiblichem und männlichem Bewusstsein, findet gerade ein spannender Wandel statt, den das Theater Heilbronn mit Inszenierungen im Großen Haus begleitet. Etwas unfreiwillig, aber später mit immer größerer Begeisterung werden drei Machos in »Drei Männer und ein Baby« (Premiere am 20. September 2019) gezwungen, ihr tradiertes Rollenverhalten aufzugeben. Das Theater Heilbronn hat sich für Coline Serreaus gleichnamiges Schauspiel, das nach ihrem preisgekrönten Film entstand und das sie gerade erst selbst am Theater in Paris uraufgeführt hat, die Rechte an der Deutschsprachigen Erstaufführung gesichert.
Jenseits aller Rollenklischees bewegt sich auch die Heldin des Weihnachtsmärchens »Drei Haselnüsse für Aschenbrödel« von Uli Jäckle, Václav Vorliček und František Pavliček (Premiere am 3. November 2019). Dieses Aschenbrödel ist als moderne, selbstbewusste, gewitzte junge Frau Vorbild für Heranwachsende.
Goethe und Shakespeare
Johann Wolfgang von Goethes großes Weltgedicht »Faust. Der Tragödie erster Teil« (Premiere am 23. November 2019 im Großen Haus) spiegelt die ewigen Fragen des rastlos tätigen, strebenden, sehnsüchtigen Menschen nach Gut und Böse, der Liebe, der Willensfreiheit und nach den Grenzen der Wissenschaft. Erst der Tod von »Romeo und Julia« von William Shakespeare (Premiere am 20. Juni 2020 im Großen Haus) bringt das Ende der jahrhundertealten Fehde zwischen den Familien Montague und Capulet. Und so ist diese große Liebe, die trotz aller Tragik stärker ist als die Gewalt, ein Symbol der Hoffnung. Bis heute sind Romeo und Julia ein Synonym für die bedingungslose Liebe, die sich über alle Schranken hinwegsetzt.
Beethoven-Jahr 2020
Den 250. Geburtstag des Musikgenies Ludwig van Beethoven im kommenden Jahr greift das Theater ebenfalls auf. Aus dem Staatstheater Saarbrücken kommt sein Ballett »Prometheus« in der Interpretation von Stijn Celis (Premiere am 16. Oktober 2019). Beethovens einzige Oper »Fidelio« (Premiere am 5. November 2019 als Gastspiel des Theaters Ulm) ist eine gigantische Ode an die Freiheit, ein Bekenntnis gegen jede Art von Terror und Tyrannei und eine Parabel über den Missbrauch politischer Ideen. Mit »La Traviata« von Giuseppe Verdi (Premiere am 20. Februar 2020 als Gastspiel des Pfalztheaters Kaiserslautern) ist eine der erfolgreichsten Opern der Musikgeschichte zu sehen. Im Zentrum steht die tragische Geschichte einer schönen Edelkurtisane, die den Fehler macht, sich wirklich zu verlieben. Das Nationaltheater Mannheim präsentiert im Handlungsballett „Der Tod und das Mädchen“ von Stephan Thoss (Premiere am 27. Februar 2020) einen der meistbearbeiteten und berührendsten Stoffe der Kunstgeschichte.
Gastspiele
Schmissige Melodien und eine selbstbewusste Frau, die das Heft des Handelns in der Hand behält, sorgen bis heute für den Erfolg der »Lustigen Witwe« von Franz Lehár (Premiere am 26. März als Gastspiel des Theaters Heidelberg). Einen amüsanten Trip durch die Höhen und Tiefen von unterschiedlichen Paarbeziehungen unternimmt Stephen Sondheim in seinem Musical »Company« (Premiere am 22. Mai 2020 als Gastspiel des Theaters für Niedersachsen Hildesheim).
Mit »Katja Kabanova«, der Titelheldin der gleichnamigen Oper von Leoš Janáček (Premiere am 1. Juli 2020 als Gastspiel des Theaters Heidelberg), ist eine der großen dramatischen Frauengestalten der Opernliteratur zu erleben. Sie sucht nach Freiheit, Zuneigung und Liebe inmitten einer bigotten kleinbürgerlichen Gesellschaft.
Die Saison im Komödienhaus eröffnet am 10. Oktober 2019 mit einem Gastspiel der Komödie am Kurfürstendamm. Gespielt wird die Komödie »Alles was Sie wollen« vom französischen Erfolgsduo Matthieu Delaporte und Alexandre de la Patellière. Zu Gast sind die aus Film und Fernsehen bekannten Schauspieler Nora von Collande und Herbert Herrmann.
»Revanche« von Anthony Shaffer (Premiere am 16. November 2019) ist eine hochintelligente, irrwitzige Mischung aus Psychothriller und rasantem Katz- und Maus-Spiel. Andrew Wyke lädt den Liebhaber seiner Frau zu sich nach Hause ein und schlägt ihm ein bizarres Geschäft vor. In »Sonny Boys« von dem im vergangenen Jahr 91-jährig verstorbene US-amerikanischen Dramatiker Neil Simon (Premiere am 11. Januar 2020) lässt der Meister der Broadway-Komödie zwei alte Freunde aufeinandertreffen, sie sich heillos verstritten haben. Es geht um die Furcht vorm Älterwerden, vor dem Verschwinden in der Bedeutungslosigkeit, aber auch um den Wert von Freundschaft und die Grosszügigkeit im Umgang mit den Fehlern anderer.
In Yasmina Rezas Komödienhit »Bella Figura« (Premiere am 8. Mai 2020) präsentiert die brillante französischen Gesellschaftsautorin eine neue Versuchsanordnung, in der sie mit Lust die wahren Gesichter hinter einer scheinbar anständigen bürgerlichen Fassade enthüllt. »Männer« (Premiere am 8. Mai 2020) ist ein kleines, feines Comedy-Musical mit Musik von Jimmy Roberts und Buch von Joe DiPietro. Es basiert auf dem gleichnamigen Kino-Hit von Doris Dörrie und spielt mit Klischees über Männer, Frauen und ihre verzwickten Beziehungen.
Für das Sommergastspiel ist wieder die Berliner Komödie am Kurfürstendamm eingeladen mit der Uraufführungsinszenierung der herzerwärmenden Komödie »Monsieur Pierre geht online« nach dem Film von Stéphane Robelin. Folke Braband, den die Heilbronner als Regisseur des großen Publikumserfolgs »Die Tanzstunde« kennen, hat den Stoff für die Bühne adaptiert und ihn mit einem Starensemble inszeniert. Mit dabei sind Walther Plathe als Monsieur Pierre, Manon Straché, Magdalena Steinlein und Vanessa Rottenburg.
Gesellschaftsthemen
Armut und die zunehmend auseinander klaffende Schere zwischen Reich und Arm ist das Thema, mit dem die BOXX die Spielzeit eröffnet. Im Stück »No und ich« nach Delphine de Vigan (Premiere am 21. September 2019) versuchen drei jugendliche Außenseiter miteinander klar zu kommen: die obdachlose Nowlen, die intellektuelle Überfliegerin Lou und der von seinen Eltern vernachlässigte Luca. Billy kann und kann sich nicht konzentrieren. In seinem Kopf wimmelt es vor Ideen wie in einem Bienenstock. »Wild!« (Premiere am 2. November 2019) geht es dort zu und so heißt auch das Stück von Evan Placey, das einen Blick in den Kopf eines Jungen wagt, der an ADHS leidet und Verständnis für Kinder weckt, die vielleicht etwas anders sind als die Norm. »Nachtgeknister« von Mike Kenny (Premiere am 12. Januar 2020) erzählt von einer alleinerziehenden, berufstätigen Mutter, die ihre beiden Kinder abends alleine lassen muss. Eine unbedachte Bemerkung führt zu Ängsten, die schließlich durch Vertrauen und Liebe der Familienmitglieder wieder überwunden werden können.
Ist es möglich, den Holocaust an die folgenden Generationen zu vermitteln? 1938 wurde direkt neben dem Konzentrationslager Buchenwald für die KZ-Aufseher und deren Familien ein Zoo gebaut. Jens Raschke nutzt in diesen Fakt in »Was das Nashorn sah, als es auf die andere Seite des Zauns schaute« (Premiere am 22. März 2020), um daraus eine allgemeingültige, kindgerechte Fabel über den Umgang mit Ungerechtigkeit und Unmenschlichkeit zu schreiben. Ihre Eltern hassen sich. Aber Sabah, die Tochter algerischer Einwanderer, und Romain, der Sohn eines rassistisch eingestellten Paars, spüren eine tiefe Verbundenheit miteinander. In »Die Zertrennlichen« von Fabrice Melquiot (Premiere am 14. Juni 2020) erleben wir, wie die Kinder versuchen, sich gegen die Vorurteile der Erwachsenen zu behaupten.
Kooperationen
Als Fortsetzung der Kooperation zwischen der »experimenta« und dem Theater Heilbronn findet vom 6. bis 9. November 2019 erstmals das internationale Festival »Science & Theatre« statt, das die Schnittstellen zwischen Wissenschaft und Theater untersuchen wird. Eingeladen sind Gastspiele renommierter Theater und Kompagnien ein, die sich thematisch mit Wissenschaft und Wissenschaftsgeschichte, wissenschaftlichem und technologischem Fortschritt und Ethik der Wissenschaft auseinandersetzen. Teil des Festivals ist ein Autorenwettbewerb für noch nicht ur- oder im deutschsprachigen Raum erstaufgeführte Theatertexte, die sich einem gesellschaftlichen Diskurs im Kontext der modernen Wissenschaften, insbesondere der Naturwissenschaften und Technik, stellen.
Vom 30. Januar bis 9. Februar 2020 findet in sechs Städten Baden-Württembergs das Internationale Theaterfestival animierter Formen »Imaginale« statt. Im Theater Heilbronn ist das Festival zum fünften Mal zu Gast. Der Themenschwerpunkt ist diesmal: »resonanzKÖRPER«.
Prominenz satt
Vom 27. Mai bis 1. Juni 2020 dürfen die Herzen der Tanzfans wieder höher schlagen: Das internationale Festival Tanz! Heilbronn bringt zeitgenössischen Tanz auf alle Bühnen des Theaters. Die Reihe »Theater Spezial! Groß.Klein.Kunst.« wird auch 2019/20 am Theater Heilbronn fortgesetzt. Mit dabei sind außergewöhnliche literarische Programme in Starbesetzung: Das »TV-Traumpaar« Mariele Millowitsch und Walter Sittler lesen »Alte Liebe«, Suzanne von Borsody interpretiert Frida Kahlo und mit »Habe Häuschen, darin würden wir leben« kommt Roger Willemsens letztes Bühnenprogramm, freundschaftlich besetzt mit seinen ehemaligen Bühnenpartnern Annette Schiedeck und Jens-Uwe Krause, auf die Bühne. Mit »Oben und Unten« nehmen sich Jakob Augstein und Nikolaus Blome in einem journalistischen »Bühnen-Match« der aktuellen politischen und gesellschaftlichen Themen an. Außerdem mit dabei Sissi Perlinger, Martina Schwarzmann, Sebastian Pufpaff, Gerd Dudenhöffer, Die Distel, Markus Maria Profitlich, Alfons, Bodo Wartke und zum letzten Mal auf »Großer Hafenrundfahrt« Horst Schroth!
Weitere Info unter www.theater-heilbronn.de