»Amon. Mein Großvater hätte mich erschossen«, heißt die Autobiografie von Jennifer Teege. Am 20. Januar liest sie in der KZ-Gedenkstätte Neckarelz und sprach zuvor mit MORITZ-Redakteurin Simone Heiland.
Können Sie den Moment beschreiben, als Sie realisiert haben, wer Ihr Großvater war?
Zunächst, als ich das Buch entdeckt hatte, ging es nur um meine Mutter. Erst als ich dann zuhause das Buch gelesen habe, wurde mir allmählich klar, dass das zwei verschiedene Ebenen sind, dass das quasi eine Familienchronik ist. Da habe ich dann wirklich erst verstanden, dass mein Großvater ein Kriegsverbrecher war. Die ganze Dimension, auch die Verknüpfung mit der Familie, das alles zu erfassen und zu begreifen, das hat noch eine Weile gedauert.
Haben Sie über die Aufarbeitung dieses Themas Kontakt zu anderen Betroffenen bekommen, die Ähnliches in ihren Familien erlebt haben?
Ja, natürlich. Sehr viel sogar. Da gibt es Unzählige, die Ähnliches erlebt haben. Das ist ein Stück deutsche Geschichte, die sich natürlich auf die nachwachsenden Generationen überträgt. Wir sind eine Tätergeneration und ich bin mit vielen Menschen im Austausch gewesen und bin es noch, die mich auch immer wieder ansprechen bei meinen Lesungen. Da gibt es unendlich viele Schicksale.
Hilft es, sich mit anderen austauschen zu können?
Ich fühle mich geehrt, wenn Menschen mit mir ihre Gedanken und ihre Gedanken teilen. Aber für mich ist der Austausch jetzt nicht wichtig zur Aufarbeitung meiner eigenen Geschichte. Meine Geschichte steht ja gewissermaßen exemplarisch für andere. Und ich nutze sie, um bei anderen Menschen etwas loszutreten oder auszulösen.
Sind Sie während dieser Zeit der Entdeckens Ihrem Beruf nachgegangen oder mussten Sie sich eine Auszeit nehmen?
Ich war freiberuflich tätig, habe in der Werbung gearbeitet und direkt danach erstmal gar nicht. Wann ich wieder angefangen habe, meinen normalen Alltag zu leben, kann ich heute gar nicht mehr sagen. Aber das hat gedauert.
Sie haben in einem Interview mit der FAZ gesagt, diese Entdeckung Ihrer Herkunft sei ein Befreiungsschlag gewesen. Inwiefern?
Ich weiß gar nicht, ob ich das als Befreiungsschlag bezeichnen würde. Es war so, dass es viele alte Gefühle gab, die durch diese Entdeckung Raum gefunden haben. Ich hab’s mal verglichen mit einem Haus. Ich fühlte mich wie in einem Haus mit verschlossenen Türen. Und trotz der vielen Jahre, in denen ich mich ja auch schon Therapien unterzogen hatte, war es mir gelungen, diese Türen zu öffnen. Es gibt bis heute noch Dinge, die im Verborgenen bleiben, aber ich hatte plötzlich das Gefühl, dass ich einen Schlüssel hatte, mit dem ich diese Türen öffnen und mir ansehen konnte, was dahinter lag. Etwas, was im Unterbewusstsein doch lange Zeit spürbar war, wurde nun transparent. Das war natürlich nicht gleich die Heilung, aber zumindest war es möglich, an meine Gefühle heran zu kommen und die dann mit Geduld, Zeit und viel Arbeit aufzuarbeiten. Und, das darf man nicht vergessen, diese toxische Kraft, die so ein Familiengeheimnis hat, hat durch die Entdeckung an Einfluss verloren.
Auch Ihre Mutter hat erst im Erwachsenenalter erfahren, wer ihr Vater war. War das der Grund, Sie zur Adoption freizugeben? War sie mit dem Leben, auch mit dem Leben als Mutter überfordert?
Das war sicherlich ein Grund, aber einer von verschiedenen. Was viele nicht wissen, meine Mutter hatte gar nicht vor, mich gleich zur Adoption freizugeben, das hat sich dann so entwickelt. Meine Mutter war aufgrund ihrer Biografie schon belastet. Sie befand sich in einer Ehe mit einem gewalttätigen Mann. Das waren schwierige Verhältnisse, als Kind dort aufzuwachsen. Ich kam in eine Pflegefamilie, weil es einfach zunächst mal darum ging, einen Platz zu finden, an dem ich aufgehoben war. Und weil ich mich bei meiner Pflegefamilie so wohlgefühlt habe, hat sich meinen Mutter später entschlossen, mich zur Adoption freizugeben.
Sie haben Ihre Mutter später getroffen, dann brach der Kontakt wieder ab. Haben Sie sie inzwischen wiedergesehen?
Es gab einen Kontakt, als mein Buch veröffentlicht wurde und seitdem nicht mehr. Ich sag‘ immer: Meine Tür ist offen. Sie müsste sich entscheiden, da hindurch zu gehen.
Woran oder an wem orientieren Sie sich? Das ist schwierig, da gibt’s so Vieles. Im Prinzip würde ich sagen, an ethisch-moralischen Grundsätzen. Das sind so die Leitlinien für mich.
Haben Sie, obgleich Ihnen in Ihrem noch jungen Leben schon so Schlimmes widerfahren ist, dieses Urvertrauen, das einem ja im Leben Halt gibt?
Ich kenne es nur, allein und auf mich selbst gestellt zu sein. Ich musste mich immer auf mich selbst verlassen. Und das gibt eine gewisse Stärke. Ich hatte keine guten Startbedingungen, aber das haben andere Menschen auch nicht. Es kommt immer darauf an, was man aus seinem Leben macht. Und darin liegt ja auch die Chance, dass man früher eine Art von Einsicht oder Weisheit gewinnt als andere, die in anderen Bedingungen aufgewachsen sind. Es geht natürlich auch darum, sich selbst anzunehmen. Man muss lernen, aus sich selbst zu schöpfen. Wenn man das geschaffft hat, kann einem das niemand mehr nehmen. Und man darf nicht vergessen, dass ich dann in der Adoptivfamilie beste Voraussetzungen hatte. Ich bin in einem schönen Vorort von München behütet aufgewachsen. Bildung war ein großes Thema. Da gab’s ganz viel, das mich getragen hat.
Erinnern Sie den Moment, in dem Sie gefühlt haben: Jetzt bin ich übern Berg, jetzt kann ich loslassen?
Den einen Moment gab es gar nicht, es gab viele kleine Schritte nach vorne. Aber ein Meilenstein war sicherlich, als das Buch erschien ist. Ich war zu der Zeit in Israel und habe das Buch dort auf der Buchmesse vorgestellt. Es war für mich eine ganz besondere Erfahrung, mit Menschen dort zu sprechen, auch mit Überlebenden des Holocaust, und zu sehen, wieviel es den Menschen bedeutet, dass die Linie Göth keine Fortsetzung gefunden hat, dass es kein Nazi-Gen gibt, dass weitergetragen wird, sondern dass man trotz dieser Abstammung ganz anders sein kann. Bei mir ist das schon allein optisch der Fall. Und besonders war auch, dass ich mit den Menschen dann noch hebräisch kommunizieren konnte. Es war berührend, wie sehr die Menschen auf mich zugegangen sind, wieviel Interesse da war und wie auch Freundschaften entstanden sind.
Miteinander zu reden, vorurteilsfrei aufeinander zuzugehen, kann Berge versetzen und ist doch so schwierig. Woran liegt das?
Empathie ist da das Stichwort. Das klingt immer so, als ob das ein hehrer Traum wäre. Das ist sicherlich eine der Grundvoraussetzungen für friedliches Zusammenleben.
Hat das etwas mit Verzeihen zu tun oder ist es ein Akzeptieren dessen, was nicht zu ändern ist?
Die Frage ist: Wem verzeihen? Ich sehe das Ganze eher pragmatisch. Wir sind alle Teil eines großen Ganzen. Es gibt einen Lebensentwurf für jeden Menschen. Ich glaub‘ aber nicht, dass wir determiniert sind, von vornherein festgelegt. Ich glaube, dass wir alle Teil eines Rads sind und so ist auch jede Biografie Teil dieses Rads. Und es ist die Frage, ob man das annimmt. Man kann davor davonlaufen, aber man tut sich keinen Gefallen damit. Die Wahrheit holt einen immer ein. Man kann sich niemals selbst belügen.
Was ist Ihnen wichtig im Leben?
Familie, meine Kinder, mein Mann. Aber Familie muss nicht unbedingt leibliche Familie sein. Das sind auch Freunde oder Menschen, die ich gar nicht näher kenne, die ich bewundere. Verstorbene, Gedanken, Bücher, Philosophen. Nehmen Sie Kant. Das birgt so viele Wahrheiten, die schon gesagt worden sind. Was mir auch wichtig ist, ist Gerechtigkeit. Ungerechtigkeit ertrage ich sehr schlecht. Und Gesundheit.