Eintrag ins Goldene Buch der Stadt: Christian Wulff mit Bürgermeister Rolf Kieser (links).
Seit 30 Jahren wird in Brackenheim der Geburtstag des ersten Sohns der Stadt gefeiert. Zunächst in Fünferschritten, seit einiger Zeit jährlich. „Aus dem Vermächtnis von Theodor Heuss leiten wir den Auftrag ab, uns für die Demokratie stark zu machen." So verdeutlichte Brackenheims Bürgermeister Rolf Kieser Sinn und Zweck des Festakts.
Theodor Heuss, am 31. Januar in Brackenheim geboren, am 12. Dezember 1963 in Stuttgart gestorben, erster Bundespräsident (1949-59) der Bundesrepublik Deutschland, Journalist und Politikwissenschaftler, wäre heute 135 Jahre alt. Gemeinsam mit der Theodor Heuss Stiftung, vertreten durch den Heuss-Enkel Professor Dr. Ludwig Heuss, und der Stiftung Bundespräsident-Theodor-Heuss-Haus mit Dr. Thomas Hertfelder hat die Stadt Brackenheim somit einmal mehr zu einer Matinée mit launigen Reden und nachdenkenswerten Worten eingeladen.
Festredner Christian Wulff, von Ende Juni 2010 bis Mitte Februar 2012 zehnter Bundespräsident, reiste aus Hannover an. Erstmals in Brackenheim tat er sogleich kund, dass es wohl nicht sein letzter Besuch in der Heuss-Stadt gewesen sein solle. Am Abend zuvor war er in Hoffenheim, seine Kinder verbrachten den Sonntag im Technik-Museum Sinsheim. Und um die Vorzüge des Lemberger reiflich testen zu können, bekam er einen gut gefüllten Einkaufskorb, für den man, verglichen mit den Gastgeschenken für die anderen Redner, etwas tiefer in den Weinberg gegangen sein, wie Rolf Kieser verriet.Christian Wulff, der es als mutig bezeichnete, von seinem Gastgeber keine Zeitvorgabe bekommen zu haben, sprach überwiegend frei. Eine Herausforderung für die Vertreter der schreibenden Zunft, gleichwohl eine Wohltat angesichts der so oft fremd verfassten und seelenlos herunter gelesenen Manuskripte.
Wulff spannte einen weiten Bogen. Von der so wenig wahrgenommenen Tatsache, dass die Generation der heutige 60-, 70-Jährigen seit 70 Jahren in Frieden lebt und über die Vorzüge, aber auch die Gefahren der Digitalisierung. Über den Hass und den Zorn in der Gesellschaft, dem freier Lauf gegeben werde, müsse nachgedacht und Ursachenforschung betrieben werden. Der Erfinder von Social Media habe sich jüngst tief erschüttert darüber gezeigt, wie Facebook Menschen manipuliere. Wulff: „Mark Zuckerberg verbietet seinen eigenen Kindern den Umgang mit Social Media. Das ist so, als ob der Chef von Mercedes seinen Mitarbeitern verbietet, die eigenen Wagen zu fahren.“
Christian Wulff, der am 19. Juni 60 Jahre alt wird, sang ein Loblied auf den Nachrichtenjournalismus abseits der Internetkanäle. Er verwies darauf, dass man sich bei der Lektüre einer Zeitung und der Auswahl und Gewichtung der Inhalte auf das Urteil verantwortungsbewusster Redakteure verlassen könne. Im Internet würden hingegen ungefiltert vermeintliche News verbreitet, die eine große Mehrheit der Konsumenten bedauerlicherweise für die einzige Wahrheit hielten.
Auch vor Religion und Fremdenfeindlichkeit machte Wulff nicht halt. Mit seiner vor Jahren formulierten These, der Islam gehöre zu Deutschland, stieß er zwar auf teils herbe Kritik, regte aber ebenso eine bis heute andauernde Debatte über das Thema an. Der gebürtige Osnabrücker und CDU-Ministerpräsident des Landes Niedersachsen von 2003 bis 2010 sprach von der Bereicherung, die richtig verstandene Multi-Kulturalität für ein Land und seine Bewohner mit sich bringe. Und er ließ auch den Klimaschutz nicht aus. „Man kann die Frage des Klimaschutzes nicht national lösen.“
Christian Wulff brach eine Lanze für den ländlichen Raum. „Wir sollten unsere Heimat verteidigen.“ Die freiwilligen Feuerwehren, das Ehrenamt, der Klön am Kiosk oder beim Gemüsehändler – das alles dürfe nicht verloren gehen. Um die im eigenen Land verpönte Kleinstaaterei und Vereinsmeierei werde man in anderen Ländern beneidet. „In Frankreich konzentriert sich alles auf Paris, in Großbritanien auf London, in der Türkei auf Istanbul.“ Wir hätten mit unseren Städten wie Berlin, München, Hamburg eine unvergleichliche Vielfalt an Kultur und Lebensqualität. Innenstadt-Handel schaffe sich selber ab, weil jeder glaube, auf den Online-Zug aufspringen zu müssen. Wulff forderte einen vertrauensvollen Umgang mit den Themen, mit der die Gesellschaft in Zukunft konfrontiert sei. „Jede Generation muss sich ihre Bedingungen selbst schaffen, unter denen sie leben will.“
Christian Wulff erwies sich als vorzüglicher Redner, als Mahner, aber ohne erhobenen Zeigefinger, als Staatsmann, der sich seiner Wurzeln stets bewusst ist, als Kosmopolit mit unverbrüchlicher Heimatverbundenheit, als Mutmacher mit Weitsicht und Augenmaß, als jemand, der aus eigenen Fehlern gelernt zu haben scheint, und - ganz im Sinne seines berühmten Vorgängers - als Botschafter für Demokratie und ein friedvolles Miteinander.
Musikalisch wurde der Festakt von den jungen Pianistinnen Kerstin und Anja Mörk umrahmt. Und Schüler der Theodor-Heuss-Schule Brackenheim präsentierten einen szenischen Rückblick auf die Schulzeit des Namensgebers ihrer Schule. Simone Heiland