Foodscharing
Elf Millionen Tonnen Lebensmitteln landen in Deutschland jedes Jahr im Müll – das entspricht 275.000 voll beladenen LKWs. Die Aktion »Foodsharing« in Heilbronn möchte daran etwas ändern und organisiert Verteilerstellen. Ein Bericht von MORITZ-Redakteurin Birgit Obenland.
Gemüse, Obst und Backwaren landen am häufigsten in der Tonne. Vieles davon noch originalverpackt, so die Statistik. Falsche Lagerung, Fehleinkäufe, Reste, die nicht verwertet werden: Die Gründe dafür sind unterschiedlich. »65 Prozent der weggeworfenen Lebensmittel sind sogenannte vermeidbare Abfälle, also Produkte, die zum Zeitpunkt des Wegwerfens noch genießbar sind«, bilanziert das baden-württembische Ministerium für Ländlichen Raum und Verbraucherschutz.
Lebensmittelüberschüsse organisiert teilen
In Heilbronn engagiert sich Bianca Bensch seit rund zwei Jahren für die bundesweite Aktion »Foodsharing«. Das Prinzip ist einfach: In frei zugänglichen Schränken und Regalen können Privatpersonen Lebensmittel abgeben oder mitnehmen. Mitmachen kann jeder. Wer nichts zu verteilen hat, darf sich trotzdem an den Vorräten bedienen. Eine Plattform im Internet und bei Facebook informieren, welche Lebensmittel verfügbar sind. »In Heilbronn gibt es im Hof der Wollhausstraße 47 einen Schrank, der frei zugänglich ist«, erklärt Bensch. »Dann haben wir noch einen Kühlschrank, der Montag bis Samstag von 9 bis 16 Uhr zugänglich ist, in einer KfZ-Werkstatt in der Kastellstraße«. Auch in Nordheim und in Brackenheim-Hausen gibt es einen Verteiler. Die Vorteile von Foodsharing liegen Bianca Blancha auf der Hand: Umweltschutz, Müllvermeidung und genießbare Lebensmittel retten.
Mindesthaltbarkeit abgelaufen: Viele Sachen sind noch gut
»Außer Lebensmitteln von privat rettet Foodsharing auch Reste, die Betriebe übrig haben. Oft sind es Produkte, deren Mindesthaltbarkeitsdatum abgelaufen ist, die trotzdem noch genießbar sind. Oder Ware, die nach Ablauf einer Aktion aus den Regalen verschwindet, wie Oster- und Weihnachtssachen«. Eine Konkurrenz zu den Tafelläden gibt es nicht, so Bensch: «Es besteht zwischen mir als Botschafterin für Foodsharing und Herrn Weiler, dem Leiter der Heilbronner Tafeln, ein recht enger Kontakt. Wir nehmen die Sachen, die die Tafeln nicht abholen, oder wir kommen an anderen Tagen. Manchmal fahren wir zu Betrieben, bei denen sich eine Abholung für die Tafel nicht ‚lohnt‘.« In Heilbronn gibt es laut Bianca Bensch zurzeit rund 65 »Foodsaver«, Personen, die Nahrungsmittel von Betrieben abholen und an die Verteilerstellen bringen. Leute, die ihr Essen über das Projekt teilen, gibt es, so Bensch deutlich mehr. Verderbliche Lebensmittel wie Fisch, Geflügel, Fleisch, rohe Eierspeisen und zubereitete Lebensmittel sind vom Foodsharing ausgeschlossen, lautet die klare Vorgabe der Initiatoren. Ein Foodsharing-Wiki, eine Art Online-Nachschlagewerk, erläutet die Regeln und die rechtlichen Grundlagen der Aktion. »Grundsätzlich jedoch kann man sagen, jeder sollte seinen gesunden Menschenverstand einsetzen. Dann weiß man auch, was man noch weitergeben kann und darf oder, was eben doch besser in den Müll gehört«, fasst Bensch das Prinzip zusammen.
Auswirkungen auf die Umwelt
Eine Banane mit Druckstellen, eine angetrocknete Gurke oder auch eine schrumpelige Möhre: Eine Studie der Universität Stuttgart zeigt, Obst und Gemüse machen fast die Hälfte des Lebensmittelsabfalls aus. Danach folgen Back- und Teigwaren sowie Speisereste. Und: Die wenigsten Lebensmittel, die im Müll landen, gehören auch dorthin. Die Auswirkungen auf die Umwelt sind nicht zu leugnen, so die Studie. Denn jedes Lebensmittel braucht für seine Herstellung Ressourcen wie Ackerboden, Wasser und Dünger, Energie für Ernte, Verarbeitung und Transport. So fließen allein 1.000 Liter Wasser, bis ein Kilogramm Brot entstanden ist. Für diesselbe Menge Rindfleisch sind es über 15.000 Liter.
Bewusster Umgang mit wertvollem Essen
Auch Bundesernährungsminister Christian Schmidt will die Verschwendung von Lebensmitteln in Deutschland reduzieren und hat die Aktion »Zu gut für die Tonne« initiiert. «Wir haben in Deutschland das Glück, jeden Tag aus einer Vielzahl von qualitativ hochwertigen Lebensmitteln wählen zu können. Für die meisten von uns ist das eine Selbstverständlichkeit. Doch wie wertvoll unsere Lebensmittel tatsächlich sind, ist vielen nicht bewusst. Dies zeigt sich besonders deutlich an den elf Millionen Tonnen Lebensmitteln, die in Deutschland jedes Jahr von Industrie, Großverbrauchern, Handel und Privathaushalten weggeworfen werden. Unser Ziel ist es, die vermeidbaren Lebensmittelabfälle bis zum Jahr 2030 zu halbieren.«
Foodsharing - Gute Idee oder Etwas, das die Welt nicht braucht?
Für MORITZ-Redakteurin Birgit Obenland steht fest: »Es ist eine tolle Sache«. »Das macht keinen Sinn«, findet dagegen MORITZ-Geschäftsführer Ingo Eckert.
Pro von Birgit Obenland: Foodsharing ist eine gute Sache, weil Lebensmittel nicht in der Tonne landen und jeder dabei mitmachen kann. Und wenn ich selber nichts abzugeben habe, kann ich trotzdem schauen, ob etwas Passendes gerade angeboten wird. Auch damit engagiere ich mich gegen Lebensmittel-Verschwendung. Auch die Organisation hat mich überzeugt: Damit die Produkte nicht zu lang liegen bleiben, kann ich mich übers Internet informieren, was es gerade gibt.
Natürlich ist es sinnvoll, schon beim Einkauf darauf zu achten, dass ich nur so viel kaufe, wie ich tatsächlich brauche. Idealerweise hat jeder nur das zu Hause, was er tatsächlich auch konsumiert. Und natürlich sollten wir unsere Reste verwerten und darauf achten, dass wir ältere Lebensmittel zuerst aufbrauchen. Idealerweise sollte das so sein. Ist es aber nicht. Es passiert immer wieder einmal, dass ich zu viel Essen zu Hause habe: Ich bin nicht zum Kochen gekommen oder meine Kinder essen spontan unterwegs und die Küche bleibt kalt - trotz Vorrat. Gäste haben abgesagt oder essen weniger als sonst, und, und, und....
In meiner Nachbarschaft praktizieren wir übrigens schon lang »Foodsharing«. Hat jemand Kuchen übrig, wird bei denen geklingelt, die gern Süßes essen. Eine Nachbarin arbeitet beim Bäcker und darf abends immer Brötchen und andere Reste mitnehmen. Die verteilt sie dann gleich an mehrere Haushalte. Eine Kollegin hat zu Weihnachten mehrere Flaschen Öl und Unmengen Süßigkeiten bekommen. »Die kann ich eh nicht alle aufbrauchen. Da kann ich doch einen Teil davon zum Foodsharing bringen«, meinte sie begeistert, als ich ihr davon erzählte. Wertschätzung für unsere Nahrungsmittel, ein achtsamer Umgang mit der Natur und ihren Ressourcen: Foodsharing setzt genau hier an. Lebensmittel, die noch gut sind, landen da, wo sie hingehören: auf dem Teller.
Contra von Ingo Eckert: Zuerst dachte ich, das Ganze sei eine Parodie a-la-Badesalz »Die Mitesszentrale - isch hätt heut gään Wuscht!« Aber nein, die Sache ist tatsächlich Ernst gemeint. Nachdem ich mich näher mit der Materie beschäftigt habe, komme ich für mich zum Entschluss, dass es in dieser Form keinen großen Sinn macht und sich nicht durchsetzen wird. Warum?
1. Jeder sollte nur so viel einkaufen, wie er auch selbst verzehren kann. Es wäre sicher sinnvoll, seitens verantwortlicher öffentlicher Stellen diesen Aspekt stärker in die Öffentlichkeit zu transportieren und zu sensibilisieren.
2. Wenn ich mich dann tatsächlich einmal »verspekuliert« habe, weil vielleicht der 2-Kilo-Sack Spinat im Sonderangebot zu verlockend war, gebe ich die nicht verbrauchten eineinhalb Kilo auf direktem Weg in der Familie, der Nachbarschaft oder im Freundeskreis ab. Nebeneffekt: So sieht man sich auch mal wieder.
3. Ich bezweifle, dass es umweltfreundlicher ist, wenn einer beispielsweise den Rest seines 2-Kilo Sacks Spinat mit dem PKW fünf Kilometer zum anonymen Schrank fährt, wieder zurück nach Hause, und ein Dritter einen ähnlichen Weg hin und zurück fährt, um den Restesack abzuholen.
4. Obst und Gemüse wird durch derartige Odysseen sicher qualitativ nicht besser - höchstens die noch nachreifende grüne Banane... Lebensmittel wie Nudeln, Reis oder Müsli kann ich auch noch ein paar Wochen zuhause liegen lassen, um sie dann zu verzehren. Schnell verderbliche Ware ist ohnehin ausgeschlossen.
5. Ein Missbrauch dieses Konzepts durch »Happi-Happi-Trittbrett-Fahrer«, die sich ihre Lebensmittel auch kaufen könnten, ist nicht auszschließen.
Fazit: Das Tafel-Konzept ist prima, weil hier im großen Stil sogenannte »abgelaufene« Lebensmittel einer sozialen Verwendung zugeführt werden. Privates Foodsharing brauchen wir nicht.