Vom 16. Juli bis 1. August findet in Stuttgart der Christopher Street Day (CSD) statt, das Kulturfestival der Regenbogen-Community. Der Veranstaltungsreigen steht dieses Jahr unter dem Motto „Schaffe, schaffe – bunter werden“. Anlässlich des 20-jährigen Jubiläums des CSD-Vereins wird mit dem diesjährigen Motto nicht nur der Bogen zum ersten Motto („Stuttgart ist bunt“) gespannt, sondern auch die bunte Vielfalt im Stuttgarter Kessel genauer beleuchtet. Eine buntere und offenere Gesellschaft war und ist noch immer ein langwieriger Arbeitsprozess. Der CSD Stuttgart appelliert mit „Schaffe, schaffe – bunter werden“ an die Regenbogen-Community und alle Unterstützer*innen, sich dieser Arbeit gemeinsam weiter anzunehmen.
Kann Stuttgart bunt? Beim Gedanken an LSBTTIQ*-freundliche Städte kommen einem direkt Orte wie Köln oder Berlin in den Sinn. Kaum jemand denkt dabei als erstes an die baden-württembergische Landeshauptstadt Stuttgart. Möglicherweise ist dies auch den klassischen Klischees von den konservativen und engstirnigen Schwaben, denen manchmal auch ein gewisses Hinterwäldlertum zugesprochen wird, geschuldet. Doch diese Klischees hinter sich zu lassen und einen genaueren Blick auf die schwäbische Metropole zu werfen, lohnt sich, denn Stuttgart ist ein Kessel voller Vielfalt.In der internationalen Stadtgesellschaft liegt der Migrationsanteil bei etwa 45%. Im Jahr 1949 fand der Homobefreiungstag statt, einer der allerersten CSD in Deutschland. Mittlerweile feiern wir in Stuttgart, gemessen an der Zahl der Besuchenden, den drittgrößten CSD in Deutschland. In all den Jahren wurden viele freizügige Entscheidungen getroffen, aber groß geredet hat darüber niemand. Szenekneipen wurden toleriert, Paragrafen dafür ignoriert. Dies geschah bereits zu Zeiten, als Homosexuellen in den sich ihrer Toleranz rühmenden Metropolen noch von der Polizei nachgestellt wurde. Reden ist tatsächlich nicht die größte Stärke in Stuttgart. Dafür werden Tatsachen geschaffen. Auch ein Blick auf die Polit-Parade, die die IG CSD Stuttgart e.V. in diesem Jahr zum 20. Mal ausrichtet, offenbart die Vielfalt des Kessels: Die Parade ist der Ausdruck einer vitalen, regelrecht bunten Stuttgarter Regenbogen-Community. Vom Sportverein über Elterngruppen, Glaubensgemeinschaften bis hin zu Musik- und Kulturgruppen engagieren sich LSBTTIQ*-Menschen im Stuttgarter Raum selbstverständlich im gesellschaftlichen Leben. Fehlt eine Veranstaltung, wird sie eben auf die Beine gestellt – ein gutes Beispiel hierfür ist die Machbarkeitsstudie zum Regenbogenhaus Stuttgart. Diese Selbstverständlichkeit macht Vielfalt zunehmend zur Normalität und schafft so eine buntere Gesellschaft. Auf die Szene können wir stolz sein.Ein schöner Zufall überdies treibt uns mit unseren Anliegen dieses Jahr auf den zentralen Schlossplatz (CSD-Hocketse am 31.7. + 1.8.). Ein Grund mehr, Vielfalt stolz ins Schaufenster der Stadt zu stellen. Allerdings sorgt auch eine aktive und engagierte LSBTTIQ*-Szene alleine nicht für ein buntes Stuttgart. Vielmehr braucht es auch eine Mehrheitsgesellschaft, die dieser Vielfalt offen begegnet. Man denke dabei nur an die zahlreichen Unterstützer*innen, die bei der jährlichen Polit-Parade am Straßenrand stehen und gemeinsam mit der Regenbogen-Community die Vielfalt feiern. Stuttgart kann also bunt. Doch gewiss erstreckt sich diese Offenheit, mit der Vielfalt begegnet wird, nicht über alle Teile der Stadtgesellschaft und sicherlich mag hier und da zu viel bunte Farbe auch überfordern.
20 Jahre IG CSD Stuttgart
Die IG CSD Stuttgart e.V., der gemeinnützige Trägerverein des CSD Stuttgart, wurde vor 20 Jahren gegründet, um die jährliche Polit-Parade zu organisieren und der regenbogenbunten Community in der Region durch das ganzjährige Engagement eine Stimme zu geben. Aus diesem Grund wählt er mit „Schaffe, schaffe – bunter werden“ ein etwas eigensinniges Motto und nutzten die Gelegenheit, anlässlich des Jubiläumsjahrs den Bogen zum allerersten Motto zu spannen: „Stuttgart ist bunt“. Ja, Stuttgart war schon immer bunt. Damals gab es genauso wie heute die vielfältige Regenbogen-Community. Nur ist sie heute präsenter. Die Gesellschaft hat sich gewandelt, Vielfalt kann offener gelebt werden. Dies schafft Raum, in dem sich Vielfalt auch begegnen kann: Herausgehoben sei hier die enge Zusammenarbeit mit der türkischen Gemeinde Baden-Württemberg, mit der viele gemeinsame Aktionen durchgeführt wurden. Was früher im Verborgenen geschah, ist heute sichtbarer. Diese Sichtbarkeit, die der Stadt erst ihren bunten Anstrich verlieh, ist das Ergebnis eines langwierigen Kraftaktes.
Vielfaltsarbeit ist anstrengend
Auch wenn zu Beginn dieses Textes dazu aufgerufen wurde, Klischees über Bord zu werfen, verfällter nun doch noch einmal zurück in das Klischee-Denken: Denn mit „Schaffe, schaffe – bunter werden“ macht er sich natürlich das Klischee des fleißigen Schwaben zu eigen. Die Tatsache, dass Vielfalt heute offener gelebt werden kann, ist keine Selbstverständlichkeit, sondern das Ergebnis harter Arbeit. Eine bunte und vielfältige Gesellschaft ist ein langwieriger Prozess, der die Bereitschaft fordert, eigene Vorstellungen und Vorurteile zu hinterfragen und offen zu sein für andere Ansätze, die Dinge zu sehen und zu empfinden. Andere Sichtweisen und Erfahrungen bereichern. Nur wer das verstanden hat, profitiert von einer bunter werdenden Gesellschaft. Wer die Arbeit nicht auf sich nimmt, Hergebrachtes zu überdenken und sich versperrt, auf den mag eine bunter werdende Gesellschaft bedrohlich wirken. Das Motto des CSD 2021 dankt auch den Vielen, die sich dieser Arbeit angenommen haben, den Vielen, die eine buntere Gesellschaft zugelassen haben, und den Vielen, die sich weiter für eine buntere Gesellschaft einsetzen.
Stuttgart ist bunt – geht aber bunter
Der Weg zu einer bunteren Gesellschaft ist ein langer Prozess, der vor vielen Jahren eingeleitet wurde und an dessen Ende man noch lange nicht angelangt sind. Solange innerhalb der Gesellschaft Minderheiten aufgrund ihrer sexuellen Orientierung, Identität oder Vielfalt von Geschlecht, nicht diskriminierungsfrei leben können und nicht alle über die gleichen Rechte verfügen, ist die Arbeit noch nicht zu Ende. Dies ist aber keineswegs eine Erkenntnis, die sich nur auf die Community der Stuttgarter Region bezieht. Dieser Arbeitsprozess geht alle an: Die Regenbogen-Community überall, aber gleichzeitig muss eine buntere Gesellschaft auch zugelassen werden. Vielfalt bietet neue Perspektiven und bietet ganz neue Möglichkeiten. Wer viele Perspektiven zusammenbringen kann, der versteht eine bunte Welt viel besser. Dies gilt es zu erkennen und gleichzeitig müssen diejenigen abgeholt werden, die sich durch zu viel Buntheit überfordert oder gar bedroht fühlen. Das alles ist kräftezehrend und kostet viel Durchhaltevermögen, aber die Errungenschaften der LSBTTIQ*-Community der letzten Jahre zeigen, dass es sich lohnt, getreu dem Motto fleißig zu „schaffen“. Wir sind stolz die bunte Gesellschaft, die wir aktiv mitgestaltet haben, und von der wir ein wichtiger Teil sind. Jedoch wirkt alles auch oftmals etwas bunter als es tatsächlich ist: Es liegen noch große Aufgaben vor uns, dessen müssen zum einen wir uns bewusst sein und zum anderen müssen diese Missstände sichtbar für alle sein. Da sei beispielhaft die Notwendigkeit einer Modernisierung des Abstammungs- und Personenstandsrechts sowie des Transsexuellen-Gesetz genannt, um Regenbogenfamilien zu stärken und Fremdbestimmung zu unterbinden. Es braucht eine inklusive Sprache, um Vielfalt sichtbarer und so selbstverständlicher zu machen. Konversionstherapien zur „Heilung“ von LSBTTIQ* müssen vollständig verboten werden. Es braucht eine realitätsnahe Fristenregelung bei der Blutspende von homo- und bisexuellen Männern. Eindeutige Regelungen („sichere“ Herkunftsländer) für LSBTTIQ*-Geflüchtete unter Berücksichtigung der besonderen Bedürfnisse bei Unterbringung und Betreuung müssen geschaffen werden. Diese Aufzählung könnte noch eine ganze Weile so fortgeführt werden. Es bedarf zweifellos noch einiger Arbeit. Wichtig ist, weiterhin die Forderungen und Belange der Regenbogen-Community sichtbar zu machen. Nur, wenn alle die Aufgaben kennen, können wir gemeinsam weiter eine buntere Gesellschaft „schaffen“, in der wir alle leben und lieben wollen.
Christopher Street Day (CSD) in Stuttgart 2021
Der CSD Stuttgart findet auch 2021 trotz Corona vom 16. Juli bis 1. August statt. Es wird eine CSD-Demonstration unter dem Motto „Schaffe, schaffe – bunter werden“ am Samstag, den 31.7. in der baden-württembergischen Landeshauptstadt geben, deren konkrete Ausgestaltung abhängig von der Entwicklung der Corona-Pandemie ist.Informiert wird außerdem bei der CSD-Hocketse, für gewöhnlich in coronafreien Jahren ein großes zweitägiges Straßenfest, am gleichen Wochenende (31.+1.8.) auf dem Schlossplatz. Nach aktuellen Planungen beschränkt sich die Hocketse in diesem Jahr auf eine Infomeile, bei der zahlreiche Initiativen über ihre zumeist ehrenamtliche Arbeit sowie wichtigen Anliegen informieren. Wir behalten es uns jedoch vor, bei entsprechender Besserung der Corona-Lage unser Konzept flexibel anzupassen. Im Rahmen der Kulturtage im Juli 2021 organisiert die Regenbogen-Community mit Unterstützung zahlreicher weiterer gesellschaftspolitisch aktiver Akteur*innen Einzelveranstaltungen, die zum offenen Dialog einladen und für mehr Sichtbarkeit der LSBTTIQ-Belange sorgen. LSBTTIQ steht für insbesondere lesbisch, schwul, bisexuell, transsexuell, transgender, intersexuell und queer. Bezüglich Informationen zu allen diesjährigen Veranstaltungen und Maßnahmen und deren Ausgestaltung lohnt sich ein regelmäßiger Blick auf die Homepage (www.csd-stuttgart.de). Diese wird laufend aktualisiert.
Alle Termine des CSD-Vereins im Überblick
CSD-Kulturtage → 16.7. bis 1.8.2021 → verschiedene Orte
CSD-Empfang → 16.7.2021 → Stuttgarter Rathaus
CSD-Demonstration (Polit-Parade) → 31.7.2021 → Stuttgarter Innenstadt
CSD-Straßenfest (Hocketse) → 31.7.+1.8.2021 → Schlossplatz