Er ist älter geworden und sprüht vor Energie. Franz Müntefering, SPD-Urgestein, Jahrgang 1940, war zu Gast in der Heilbronner Volkshochschule um aus seinem Buch zu lesen. »Unterwegs - Älterwerden in dieser Zeit«. Gelesen hat er nicht. Aber erzählt.
Von 1998 bis 1999 war der gebürtige Sauerländer Bundesminister für Verkehr, Bau- und Wohnungswesen im Kabinett Gerhard Schröder, von 2005 bis 2007 Vizekanzler und Bundesminister für Arbeit und Soziales. 2013 ist er aus dem Bundestag ausgeschieden. »Seit 1975 war ich im Bundestag dabei, unterbrochen für sechs Jahre im Landtag NRW und in der Landesregierung von Johannes Rau. Nun hatte ich nicht mehr kandidiert. Ich bedanke mich bei allen Bürgerinnen und Bürgern, für die ich gute 38 Jahre lang Verantwortung übernehmen durfte. Ich habe es gerne getan und – hoffentlich – ganz überwiegend zum Nutzen der Menschen und unseres Landes. Ich bin nicht mehr Mitglied des Bundestages, aber ich versinke nicht im Schaukelstuhl. Ich bin ansprechbar.« So steht's auf seiner Website www.franz-muentefering.de.
Bei seiner Lesung in Heilbronn war er ansprechbar. Er wollte aus seinem Buch »Unterwegs - Älter werden in dieser Zeit« lesen. Nix war's. Ein Sessel mit Tischchen und Lampe stand bereit. Er stand daneben. Zwei volle Stunden. Und hat erzählt, worüber er in seinem Buch geschrieben hat. Eine Inhaltsangabe live war das. Es ging um die Tücken des Alters, um zu hohe Mieten, bedingungsloses Grundeinkommen, von dem er nichts hält, um Vorsorgevollmacht, Demenz, fitte Senioren, um das sich ehrenamtlich – etwa durch Patenschaften – auch jenseits des Renteneintritts-alters in die Gesellschaft Einbringen, um Pflege von Angehörigen, ums Sterben und die unbedingte Notwendigkeit zu einer natürlichen Akzeptanz des Todes zurückzufinden. Weil er zum Leben gehört. »Frauen leben vier Jahre länger als die Männer. Kriegen wir noch raus wie die das machen.« Bei aller Ernsthaftigkeit ist stets eine Prise Humor dabei.
Er kam zu Fuß durch die Fußgängerzone, sagte, er wohne gleich um die Ecke, im Insel-Hotel. Mit Blick aufs Bundesgartenschau-Gelände. »Das ist schön da.« In Kürze wird er wieder dort sein. Als Gastredner auf dem Landesseniorentag 2019, der am 5. Juni auf der Buga stattfindet. Zentraler Veranstaltungsort ist das Eisstadion. Aus dem ganzen Land werden Senioren erwartet. 20 Busse mindestens.
Als junger Mann war Franz Müntefering einer der Mitbegründer der Volkshochschulen in Deutschland. Sie feiern gerade bundesweit ihr 100-jähriges Jubiläum. Daher die Einladung nach Heilbronn. Und dort ging’s gleich ab in den Keller. »Wir haben gerade unseren Deutschhofkeller saniert und Sie sind der erste Gast«, begrüßte Heilbronns VHS-Leiter Peter Hawighorst seinen berühmten Gast, der sich seinerseits für den herzlichen Empfang an diesem historischen Ort bedankte.
Sein Buch sei keine Biografie, stellte er gleich zu Beginn klar. »Eine Biografie kann man erst schreiben, wenn man alles hinter sich hat.» Pause. Lachen im gutgefüllten Kellergewölbe. »Aber dann kann man nicht mehr schreiben.» Das sind sie, diese typischen Müntefering-Sätze. Kurz und knapp, immer auf den Punkt. Immer ehrlich und geradeheraus. Mit viel Mutterwitz. Westfale durch und durch. So ist sein Wesen.
Er sei acht Jahre in die Schule gegangen, fing »Münte«, wie er gerne genannt wird, an zu erzählen. »Dann hab' ich von 14 bis 16 Fußball gespielt und dachte, das mit dem Lernen ist jetzt vorbei.« Zuhause lag ein Prospekt der SPD rum. »Da konnt' ich nix mit anfangen. Ich wusste nicht, was das ist. Ich kannte nur Zentrum und CDU«, erzählt er. »Zentrum, das waren Katholiken.« So wie seine Familie. »Die Männer tranken Bier und Schnaps und die Frauen sangen Wanderlieder.« Als er seine erste Freundin hatte, fragte seine Mutter: »Die ist doch hoffentlich nicht evangelisch?« Als er seinen Vater fragte: »Was ist denn eigentlich die SPD?“, antwortete der: »Das sind evangelische Flüchtlinge.« Müntefering: »Ich konnte damit nix anfangen.« Diese Kategorisierungen hätten ihn schon früh geprägt. »Für mich war das die Grundschule der Demokratie.« Und: »WDR 3 war mein Geheimsender. Da hörte ich Tucholsky. Tod und Sühne. Meine Mutter war darüber besorgt und sagte: ‚Lass‘ das sein. Das kann einen unglücklich machen. Und ich kann dir dann nicht helfen.‘« Heiterkeit im Saal. Müntefering nimmt einen Schluck Mineralwasser und erzählt weiter – im Stehen. Er sagt, dass es wichtig sei, eine eigene Meinung zu haben und sie auch zu vertreten. Sobald man seine Gedanken jedoch niederschreibe und formuliere, könne sich Meinung ändern. Oder dass es nichts bringe, wenn man nachts aufwache und einen Traum aufschreibe. »Zu 98 Prozent ist das alles Quatsch«.
Er werde oft gefragt, wie alt er sich fühle. »Wie 79!«, sagt der 79-Jährige. »Ich bin ein Gegner des sich Jünger-fühlen-Müssens", bekräftigt er unter zustimmendem Applaus. Es sei wichtig, seine Alltagsbeweglicheit zu behalten. »Nicht an der Treppe vorbeilaufen«, empfiehlt er. »Das ist kein Hindernis.« Seine sauerländisch knappen Sätze sitzen. Sie erheitern, machen aber auch nachdenklich.
»Zeit ist die Währung der Alten«, sagt er. Und meint: Dass es Menschen braucht, die den Alten Zeit schenken. Und sich auch zum 35. Mal die immer selbe Geschichte anhören. Weil sie für den, der sie erzählt, wichtig sei.
Franz Müntefering ist in diversen Organisationen in der Seniorenarbeit aktiv, u.a. als Präsident des Arbeiter-Samariter-Bundes (ASB), und Mitveranstalter der Aktion »Auf Rädern zum Essen«. Was vordergründig so lustig klingt, ist wichtig. Denn: »‘Essen auf Rädern‘ hilft nicht viel, wenn jemand allein ist und ohne persönliche Ansprache und Bezugsperson zuhause sitzt.« Besser als Essen nach Hause zu liefern sei es, zu gemeinsamem Essen zu ermuntern. »Jeden Morgen aufstehen und ein Ziel haben, das ist wichtig.« Gespräche mit anderen seien psychisch und physisch stabilisierend.
Was für Worte.
Einkaufen zu gehen bezeichnet er, der findet, dass Brot in Deutschland relativ preiswert sei – »Oder?«, fragt er in die Runde – als eine Kultur. Im Supermarkt, an der Ladentheke finde Austausch statt. Das sei überlebenswichtig. »Ware nach Hause bringen ist kein Ersatz.« Den Tag des Renteneintritts bezeichnet er als »kulurellen Irrtum«. »Das gab's früher nicht.« Und: »Das Grundgesetz ist nicht nur für Menschen bis 65.« Über Hospize und Palliativ-Einrichtungen sagt er, der seine Ehefrau Ankepetra 2007 bis 2008 in den Tod begleitet hat: »Das ist die größte und schönste gesellschaftliche Bewegung, die wir haben.« Und: »Wenn in der Pflege so viele Männer beschäftigt wären wie Frauen, dann wären die Löhne höher.« Auch zu Facebook & CO. hat er eine glasklare Meinung: »Man muss auch mal die Klappe halten können.«
Franz Müntefering - ein Mensch mit der seltener werdenden Fähigkeit Menschenherzen zu öffnen. Simone Heiland