Corona-Virus: Sind die aktuellen Maßnahmen maßvoll oder überzogen?
Kontaktverbote, Sicherheitsabstände, Schließungen und Absagen: Die COVID-19-Pandemie hat bundesweit zu harten Maßnahmen geführt, weltweit herrscht Ausnahmezustand. Doch ist die Panik angemessen oder übertrieben? Auch Experten sind sich da nicht einig.
Ärztin Katrin Krieft: »Wir brauchen Kranke, damit wir eine Grundimmunität bekommen.«
Von Riccardo Terrasi, 1. April, 9:42
Die Frage nach der Sinnhaftigkeit der derzeitigen Maßnahmen wurde in einer am 31.03. im WDR ausgestrahlten Extraausgabe des Wissensmagazins Quarks thematisiert.
Zu Gast war die Medizinexpertin und Ärztin Katrin Krieft. In mehreren Einspielern trug sie das derzeit bekannte Wissen über das neuartige Virus zusammen: Die aktuellen in Deutschland und vielen anderen Ländern ergriffenen Maßnahmen hätten das Ziel, eine schnelle Ausbreitung des Virus zu verhindern. Andernfalls sei eine Überlastung der Krankenhäuser zu befürchten.
Hingegen wurde ebenfalls thematisiert, was genau das Virus langfristig stoppen würde: Nötig sei eine Grundimmunität in der Bevölkerung, die nur zu erzielen sei, wenn sich genügend Menschen mit dem Virus infizierten.
Grundimmunität zur Bekämpfung von Corona?
Wie in einem Einspieler erklärt wurde, genesen bereits erkrankte Patienten und entwickeln eine – zumindest temporäre – Immunität gegen COVID-19. Dadurch trifft der Erreger immer häufiger auf Menschen, die es nicht mehr infizieren kann: Die Ansteckungskette wird unterbrochen. »Wenn zwei Drittel der Bevölkerung infiziert oder genesen sind, wird das Virus gestoppt. Die Zahl der Infizierten bleibt konstant.«Tierversuche legten den Schluss nahe, dass eine Immunisierung nach der Ansteckung mit Corona sehr wahrscheinlich sei. Krieft präzisierte, dass eder Infizierte im Durchschnitt drei weitere Menschen anstecke. Daraus resultiere die derzeit beobachtbare rasante Ausbreitung von Corona. Die Expertin erklärt:
»Wenn von den dreien, die ich anstecken könnte, zwei schon immun sind, dann kann ich das Virus nur noch an einen weitergeben. Damit wäre das exponentielle Wachstum gestoppt.«
Was bringen die Maßnahmen?
Moderator Ralph Caspers griff vor diesem Hintergrund die These auf, dass es wahrscheinlich unmöglich sei, das Virus komplett zu stoppen. Hinsichtlich der derzeit in Deutschland und vielen anderen Ländern verhängten Einschränkungen fragte er: »Was bringen diese drastischen Maßnahmen, die wir gerade machen? Helfen die irgendwie?« Auch wollte er wissen, wie lange die Bevölkerung den derzeitigen Zustand noch erdulden müsse.
Krief macht auf die Problematik der Ausgangsbeschränkungen und Schließungen aufmerksam: »Es wird sicherlich keine Sache von zwei Wochen sein, wo wir harte Maßnahmen haben, dann wieder locker lassen und alles ist gut.« Die harten Maßnahmen würden zwar auf Dauer dazu führen, dass die Erkrankungszahlen runtergingen. Das Problem würde damit aber nicht dauerhaft gelöst, sondern lediglich verschoben:
»Sobald wir die Maßnahmen wieder lockern, werden sich wahrscheinlich sehr viele Leute wieder anstecken, weil es keine Grundimmunität in der Bevölkerung gibt. Das hört sich absurd an, aber wir brauchen Kranke, damit wir eine Grundimmunität in der Bevölkerung bekommen.«
»Das wird sich wirtschaftlich nicht durchhalten lassen«
Kritisch blickt sie auf den derzeitigen politischen Kurs, die Zahl der Erkrankten mittels Schließungen und Ausgangsbeschränkungen konstant niedrig zu halten: »Das wird sich auch wirtschaftlich über einen so langen Zeitraum auch überhaupt nicht durchhalten lassen.« Viele Menschen stünden bereits jetzt am Existenzminimum.
Stattdessen plädiert sie für eine Art »On-Off-Situation«, bei der sich harte Maßnahmen mit Lockerungen abwechseln. Dadurch würden immer wieder neue Erkrankungsfälle hinzukommen und eine Grundimmunität erzeugen, gleichzeitig würde das Gesundheitssystem nicht überlastet. Es bräuchte einen ständigen Wechsel zwischen Schließung und Öffnung von sämtlichen Einrichtungen: »Schule auf, Schule zu – das ist das, was von den Wissenschaftlern als gangbarer Weg gesehen wird.«
Eine Grundimmunität in der Bevölkerung ist nach Ansicht von Kathrin Krieft also die Grundlage für eine Effektive Bekämpfung von Corona. Diese müsse jedoch kontrolliert und maßvoll erfolgen, um das Gesundheitssystem nicht zu überlasten.
Deutschlandweites Kontaktverbot
Von David Gerhold, 30. März, 13:30
»Das Coronavirus verändert zurzeit das Leben in unserem Land dramatisch. Unsere Vorstellung von Normalität, von öffentlichem Leben, von sozialen Miteinander - all das wird auf die Probe gestellt wie nie zuvor.« Mit diesen Worten richtete Bundeskanzlerin Angela Merkel am 18. März in einer Ansprache an die deutsche Bevölkerung. Sie betonte den Ernst der Lage sowie die Wichtigkeit, die Ausbreitung des Virus mit allen Mitteln zu verlangsamen und wählte dafür einen drastischen Vergleich: »Seit der Deutschen Einheit, nein, seit dem Zweiten Weltkrieg gab es keine Herausforderung an unser Land mehr, bei der es so sehr auf unser gemeinsames solidarisches Handeln ankommt.«
Nur wenige Tage nach Kanzlerin Merkels Ansprache einigten sich Bund und Länder auf ein umfangreiches Kontaktverbot. Ansammlungen von mehr als zwei Personen wurden grundsätzlich verboten, in der Öffentlichkeit gilt ein Mindestabstand von 1,50 Metern einzuhalten, öffentliche Einrichtungen und Geschäfte mussten schließen. Die Einhaltung dieser Verhaltensregeln werden seitdem von der Polizei und Ordnungsbehörden überwacht und sanktioniert. Einige Bundesländer, darunter Sachsen und Bayern, haben ihre Bestimmungen sogar verschäft – dort herrscht unter anderem eine generelle Ausgangsbeschränkung, die über das bloße Kontaktverbot hinausgeht.
Unverhältnismäßige Maßnahmen
Eine der prominentesten Gegenstimmen zu diesen Maßnahmen ist der Immunologe und Toxikologe der Uniklinik Hamburg Prof. Dr. Stefan Hockertz: »Die Reaktion der Politik ist unverhältnismäßig, sie ist autoritär, sie ist rechthaberisch, sie ist maßlos«, äußerte sich Hockertz in einem Interview mit Radiosender 94,3 rs2. COVID-19 sei in seinem Krankheitsverlauf sowie in der Sterblichkeitsrate vergleichbar mit der Influenza-Erkrankung. »In der letzten Saison hatten wir 25.100 Influenza-Tote, da hat niemand von einer Pandemie oder Krise gesprochen«, so Hockertz. »Das ist für mich eine Hysterie. Und damit ist niemand gut beraten, sondern eher mit wissensbasiertem, vernünftigem Verhalten.« Eine Meinung, die auch Stimmen aus der Region wie Dr. Bodo Schiffmann, ärztlicher Leiter der Schwindelambulanz Sinsheim, teilen.
Anteil an der vergleichsweise hohen Todesrate in Ländern wie Italien haben laut Hockert vielmehr unzureichende Hygienevorschriften – etwas, das auch Claus Wendt vom Institut Soziologe der Gesundheit und des Gesundheitssystems der Universität Siegen, bestätigte: Bei Krankenhauskeimen schneide Italien im europäischen Vergleich besonders schlecht ab. »Damit hätten wir also einen ersten Indikator, dass Italien bei wichtigen Hygienevorschriften im Gesundheitssystem vergleichsweise schlecht aufgestellt ist«, betont Wendt.
Zu früh für Einordnung?
»Wir wissen das alles nicht genau«, warnt hingegen BR-Gesundheitsexpertin Jeanne Turczynski. Mit Vergleichen zwischen Influenzua und dem neuen Coronavirus sei grundsätzlich Zurückhaltung geboten, denn auch wenn beide ähnliche Krankheitsbilder aufweisen, gebe es im Fall von Corona weder Medikamente noch Impfstoffe – anders als bei Influenza. Corona sei, so Turczynski, außerdem ansteckender und verbreite sich deutlich schneller als die Influenza.
Für die vergleichsweise geringe Corona-Sterberate in Deutschland hat Charité-Virologe Christian Drosten eine Erklärung: Diese hänge vor allem mit der häufigen und frühen Durchführung von Corona-Tests in der Bevölkerung zusammen. »Wir haben so wenige Todesfälle, weil wir extrem viel Labordiagnostik machen.« Auf diese Weise sei ein genaueres Bild der Lage mit niedrigerer Dunkelziffer möglich. Anders als in Ländern, in denen vor allem stark von der Krankheit betroffene Menschen getestet werden, sinke die Todesrate im Verhältnis, sobald mehr Personen mit mildem Verlauf in die Statistik einfließen. »Und weil dieser Teil größer ist, weil wir wirklich viel mehr testen, sieht unsere Fallsterblichkeit kleiner aus. Und ich will auch sagen, sie entspricht sicherlich auch mehr der Realität als das, was man in anderen Ländern sehen kann.«
Zu den Maßnahmen der Politik äußert Christian Drosten eine zurückhaltende Einschätzung: »Alle diese Maßnahmen kommen ja zusammen. Und jetzt ist es relativ schwer zu sagen, wenn man da jetzt noch etwas obendrauf setzt wie eine Ausgangssperre: Was bringt das jetzt noch mal für einen Unterschied? Dafür gibt es überhaupt keine Daten, weder in Deutschland noch irgendwo anders in anderen Studien, in Modellierungsstudien.« Stattdessen hoffe Drosten, in den kommenden Tagen und Wochen eine wissenschaftlich exaktere Basis für kommende politische Entscheidungen liefern zu können. Je mehr reale Daten man habe, desto weniger müsse man schätzen:»Das werden wir in den nächsten Wochen unbedingt machen müssen, dass wir vielleicht dann um Ostern herum eine bessere Entscheidungsbasis haben, die wir auch den Politikern dann anbieten können, in Form von wirklichen Daten. Denn es muss ja weitergehen.«
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