Psychologe im Interview: Was macht die Isolation mit uns?
Zuhause bleiben und Kontakt mit anderen Menschen vermeiden – seit Wochen befindet sich Deutschland in der sozialen Isolation, um eine Ausbreitung des Coronavirus zu verlangsamen. Damit einher gehen allerdings auch vermehrte Meldungen von Depression und häuslicher Gewalt.
Dr. Daniel Schüpbach, Chefarzt der Klinik für Allgemeine Psychiatrie und Psychotherapie im Klinikum am Weissenhof erklärt, was bei der sozialen Isolation in unserem Gehirn vorgeht.
Wie nehmen Sie als Psychologe die derzeitige Corona-Krise wahr?
Die Pandemie durch das Corona-Virus führte zu einer erhöhten Stressbelastung der Bevölkerung, wie wir es aus anderen Pandemien kennen. Aus unseren Erfahrungen reagieren viele Patienten vernünftig, besonnen, es gibt aber auch überängstliche und sorglose Reaktionen. Die anfängliche Ungewissheit ist dem Eindruck des Absehbaren und Beherrschbaren durch die Abnahme der Neuinfektionen und durch weitere Erkenntnisse gewichen.
Dadurch, dass die Regierung, v.a. die Bundeskanzlerin, der Bundesgesundheitsminister und die Regierung des Landes Baden-Württemberg, immer wieder umfassend informierten, und dass Maßnahmen mit den Wissenschaftlern abgesprochen wurden, war die Gefahr benannt und die Strategien dagegen leuchteten ein. V.a. die ruhige, bestimmte und vernunft-orientierte Fernsehansprache der Bundeskanzlerin mit den Hinweisen auf den Ernst der Lage und der Gegenmaßnahmen war meines Erachtens sehr wichtig. Warum? Psychischer Stress kann verstärkt werden, wenn Machtlosigkeit, der Eindruck des Gemachten entsteht und der Einzelne den Eindruck gewinnt, ausgeliefert zu sein. Durch die Regierung wurde also die Gefahr benannt und Gegenmaßnahmen ergriffen: Abstand von am besten zwei Metern, häufigeres Händewaschen mit Seife, Hustenetikette, Mund-Nasen-Schutz, Shut-Down von Teilen der Wirtschaft, der Schulen, KITAS, Restaurants, Hotels etc. Dazu kamen verschiedene umfangreiche Hilfspakete aus der Politik, um Existenzen von Menschen, Betrieben und Institutionen zu sichern, das Schlimmste abzufedern. Und es wurde immer wieder nachjustiert.
Mit anderen Worten: Der Schluss ist naheliegend, dass die Menschen den Eindruck gewannen, dass man dem Corona-Virus nicht machtlos ausgeliefert ist, sondern dass es alle betrifft, und man auch etwas dagegen unternehmen kann
Welche Folgen können die derzeitigen Kontaktbeschränkungen und die soziale Isolation auf den Einzelnen haben?
Kontaktbeschränkungen und noch mehr Isolation können zu einem erhöhten Stresspegel führen, weil selbstverständliche Dinge nicht mehr so wie bisher möglich sind, zuvorderst die sozialen Kontakte: wie ungezwungene Gespräche oder spontanes Zusammenkommen mit Familienangehörigen oder Freunden, der Kontakt zu den Großeltern. Bei einigen kann sich die Gefahr der Vereinsamung, der Hoffnungslosigkeit, ein Überhandnehmen von Ängsten und Depressionen ergeben. Zudem können sich Frustration, Ärger oder gar Wut manifestieren, und z.B. zu häuslicher Gewalt führen. Auf der anderen Seite gibt es viele Beispiele von Hilfsbereitschaft und Solidarität in Deutschland: Einkaufen für ältere Menschen, unterstützende Gespräche, Kochen für andere, und vieles mehr.
Was geschieht in solchen Ausnahmesituationen im Gehirn?
Die Corona-Krise dauert seit ein paar Wochen an, und ein Regelwerk von Maßnahmen ist in Kraft, erste Lockerungen wurden vorgenommen. Diese Krise hat mittlerweile etwas von ihrem Schrecken eingebüßt. Deswegen glaube ich nicht, dass es innerhalb dieser Zeitspanne normalerweise zu Veränderungen im Gehirn kommt.
Langanhaltender Stress z.B. durch veränderte, entbehrende Lebensbedingungen, kann aber im Gehirn zu Stressreaktionen führen, die die sogenannte Stress-Achse betreffen. Es handelt v.a. um drei Drüsen, welche bei Stress Hormone ausschütten und sich gegenseitig regulieren. Dazu gehören erstens der sog. Hypothalamus, eine Struktur im Zwischenhirn, welche unmittelbar über der Hypophyse liegt. Die Hypophyse ist zweitens eine Hirnanhangsdrüse, erbsengroß, welche vom Hypothalamus gesteuert wird. Die Hypophyse selbst steuert, drittens, die Ausscheidung von Glucokortikoiden wie Cortisol in den Nebennieren – bei chronischem Stress kommt es zu einer zu hohen Ausschüttung von Cortisol. Diese Substanz beeinflusst den Blutdruck, das Immunsystem, die Stimmung u.v.m.
Je nach Alter des Menschen kann sich erheblicher Stress in unterschiedlichen anatomischen Regionen des menschlichen Gehirns auswirken. In der Pubertät ist der vordere Teil der Großhirnrinde (der sog. Präfrontalcortex) besonders empfindlich. Ab dem 35. bis zum ca. 50. Lebensjahr ist es auch eine andere Struktur, die für Stress anfällig ist: der Hippocampus (das Seepferdchen), ein Teil des Schläfenlappens. Der Hippocampus ist eine zentrale Schaltstation und wichtig für das Gedächtnis. Stress kann bei diesen Strukturen zu einer Verkümmerung von Nervenzellen führen. Auch im höheren Alter kann es im Gehirn zu stressbedingten Veränderungen kommen: zum Beispiel im Mandelkern (die Amygdala). Er ist wie der Hippocampus im Schläfenhirn gelegen, für die Regulation von Emotionen, Gedächtnis, aber auch für das Auftreten von Depressionen oder Ängsten von Bedeutung.
Was sind die größten Gefahren?
Soziale Isolation, Resignation, Depression, übersteigerte Ängste einhergehend mit untauglichen Bewältigungsstrategien wie verstärkter Alkoholkonsum sind einige Gefahren der aktuellen Einschränkungen des sozialen Lebens. Frustration, Wut, Ärger und früher bereits vorhandene Aggressionen können sich, z.B. unter Alkoholeinfluss, verstärken und zu häuslicher Gewalt, meist gegen körperlich Schwache (Frauen und Kinder), führen.
Mit welchen Herausforderungen müssen sich Familien/Eltern in diesen Zeiten auseinandersetzen?
Für Familien ergeben sich Umstellungen, die nicht immer leicht zu bewältigen sind. Die Großeltern fallen wegen des Kontaktverbots als Unterstützung weg. Den Kindern fehlt die Struktur der Schule, die sozialen Kontakte; und die Möglichkeiten, sich zu bewegen sind eingeschränkt. Eltern stehen vor der Herausforderung, für Ihre Kinder eine sinnvolle Tagesstruktur, Lerninhalte, Unterstützung beim Lernen, bei den Hausaufgaben, bei Lernschwierigkeiten, zu realisieren. Sie sind gefordert, einen guten Mittelweg zwischen Kontrolle und Autonomie zu finden, z.B. beim Schlichten und Regeln von Streitigkeiten der Geschwister untereinander, wenn z.B. Platznot herrscht, oder bei einem überbordenden Medienkonsum. Dazu kommen der Haushalt und das Home-Office. Es ist naheliegend, dass Eltern unter derartigen Bedingungen ans Limit kommen können. Und solche, die unter Ängsten oder Depressionen leiden, noch viel eher. Es ist auf der anderen Seite gut vorstellbar, dass Eltern durchaus gerne vermehrt mit ihren Kindern zusammen sind. Sie fühlen sich durch die Entwicklung und die Fortschritte, die ihr Nachwuchs macht, in ihrer Erziehungsrolle bestärkt.
Welche Rolle spielt zusätzlicher Stress durch Home-Office?
Im Home-Office kann es zu Überforderungssituationen kommen, wenn Arbeit und Privates (Kinderbetreuung, Erziehung) nicht voneinander abgegrenzt sind. Wenn dies nur über einige Tage oder Wochen zutrifft, sollte es normalerweise zu keinen größeren Problemen kommen. Bei längerdauernden Phasen steigt die Wahrscheinlichkeit, dass ein Teil der Menschen unter chronischen Stress gerät, zusätzlich zur Belastung durch die Corona Pandemie. Deshalb ist es wichtig, im Home-Office eine möglichst feste Tagesstruktur und Pausen einzuhalten, Ablenkungen (Handy, TV etc.) zu minimieren, einen festen Arbeitsplatz zu haben und sich ausreichend zu bewegen.
Welche Maßnahmen können ergriffen werden, um die soziale Isolation erträglicher zu machen?
Viele Menschen können die Corona-Krise und deren Auswirkungen auf das alltägliche Leben unter dem Aspekt der sog. Resilienz überstehen. Resilienz im psychologischen Sinn als Widerstandsfähigkeit oder Vermögen, Krisen zu überwinden. Das Deutsche Ärzteblatt hat Empfehlungen zum Wohlbefinden unter sozialer Isolation formuliert: Körperliche Aktivität durch Krafttraining, Yoga etc. und Entspannungsübungen wie Atemübungen, aktiv bleiben durch Spiele, Sudoku, Kreuzworträtsel, Lesen von Büchern/Magazinen, gesunde Ernährung, eine Reduktion des Medienkonsums, v.a. bedrohliche Inhalte, Reduktion der Beschäftigung mit Gerüchten, Informationsbeschaffung nur aus zuverlässigen Quellen, ein- bis zweimal täglich, nicht stündlich, das Gefühl der Kontrolle herstellen durch das Setzen von Zielen, Humor behalten, Lachen und Lächeln sowie extreme Emotionen wie Ängste, Unsicherheit, Wut akzeptieren.
Wird häusliche Gewalt in dieser Zeit ein größeres Problem?
Im Klinikum am Weissenhof gibt es momentan noch keinen Anstieg von Fällen mit häuslicher Gewalt im Zuge der Corona Pandemie/der sozialen Einschränkungen zu verzeichnen. Dies trifft sowohl auf die Kinder- und Jugendpsychiatrie, die Allgemeinpsychiatrie und die Suchtklinik zu. Jedoch ist es naheliegend, dass soziale Einschränkungen und Isolation das Gewaltrisiko erhöhen. Sollten die Maßnahmen der Corona-Krise über längere Zeit andauern, müsste auch von einer Zunahme der häuslichen Gewalt ausgegangen werden. Die Regierung von Baden-Württemberg hat dies erkannt und Anfang April 2020 einen Soforthilfe-Fonds für Frauen- und Kinderschutzhäuser aufgelegt (siehe auch Homepage des Ministeriums für Soziales und Integration Baden-Württemberg, Suchbegriff: Soforthilfe-Fonds).
Welche Auswirkungen hat die Corona-Krise auf Menschen mit Depressionen oder Angststörungen?
Die gegenwärtigen Maßnahmen in der Corona-Krise wie Kontakteinschränkungen und Isolation können Depressionen und Ängste verursachen oder verstärken, und zu einer Überforderung führen. Auf der anderen Seite sind alle Menschen von der Corona-Krise betroffen, für alle gibt es Schwierigkeiten und Herausforderungen, wenn nicht im gleichen Ausmaß. Nach unseren Erfahrungen ist das Thema Corona-Virus bei fast allen ambulanten Gesprächen ein Thema, jedoch stellen sich im Klinikum am Weissenhof nicht vermehrt Menschen mit Angststörungen oder Depressionen vor. Diese Situation könnte sich verschlechtern, wenn die Maßnahmen über lange Zeit andauern und die Sinnhaftigkeit nicht mehr eingesehen würde, wenn das soziale Gleichgewicht in Gefahr gerät.
Gibt es auch positive Aspekte, die die Isolation haben kann?
Weil die Corona-Krise alle Menschen betrifft, entsteht in vielen Fällen Solidarität mit Hilfe unter- und füreinander. Menschen kochen für andere, bringen Lebensmittel, lesen vor oder sprechen miteinander. Ältere Menschen, die nähen können, beteiligen sich am Herstellen von Schutzmasken. Mittel- und langfristig verändert diese Krise vielleicht auch unsere Einstellungen für selbstverständlich Geglaubtes wie das Einkaufen und Freiheiten wie das Reisen. Vielleicht führt es dazu, dass diese Dinge künftig bewusster wahrgenommen werden.
Was können wir aus der aktuellen Krise lernen?
Selbst auf die Gefahr hin, dass der folgende Satz plakativ ist. Vielleicht stellt die Corona-Krise für viele Menschen/Institutionen auch eine Gelegenheit dar, daraus zu lernen. Hier nur einige wenige: Auf der persönlichen Ebene, dass man Sorge und Verantwortung für den Nächsten hat, z.B. im Supermarkt, und dass Hygiene-Vorschriften Leben retten können; dass es Hilfen und Auswege aus schwierigen Situationen und Krisen gibt. Auf der Ebene des Krankenhauses, dass ein konsequentes Krisenmanagement zum Erfolg für die Patientinnen und Patienten und die Mitarbeitenden beiträgt. Auf der Ebene der Wirtschaft, dass Produktionsstätten/Lieferketten z.B. für Medikamente und Schutzausrüstung in Deutschland/Europa geschaffen werden. Auf der Ebene der Wissenschaft, dass die Erkenntnisse der Corona Pandemie für die weitere Forschung und Herstellung von Medikamenten und Impfstoffen genutzt und unterstützt werden. Auf der Ebene der Politik, dass durch entschiedenes Handeln und Bereitstellen von Finanzhilfen/Unterstützung von Bürgerinnen und Bürger, Betrieben und Einrichtungen soziale Spannungen minimiert und verhindert werden.
Hilfetelefon „Gewalt gegen Frauen“
Fon: 08000-116016, rund um die Uhr erreichbar
Beratungsstelle für Frauen Heilbronn
Fon: 07131-81497
Hotline zur psychosozialen Beratung Baden-Württemberg
Fon: 0800-3773776, tägl. von 8 bis 20 Uhr