4. Mai 2020: Seit Wochen verfolge ich die einschlägigen Seiten der Johns Hopkins Universität [1] über die aktuellen Fallzahlen. Am Vortag vermeldete das in Corona-Zeiten allmächtige Robert Koch Institut (RKI) mit nur 793 Neuinfizierten [2] in Deutschland einen neuen Trend, der signalisiert, dass die Zahlen sehr deutlich zurückgehen. In Österreich waren es gestern sogar nur noch 28 Neuinfizierte, Slowenien meldet Null. Die Mehrzahl der für Corona-Kranke bereitgestellten Intensivbetten bleiben leer [3], an vielen Kliniken herrscht sogar Kurzarbeit. Verrückte Welt?
Wie geht es nun weiter? Sollte man den Äußerungen von Merkel, Söder und Co. aus den Anfangszeiten des „Shutdown“ glauben schenken, müssten nun schnell deutliche Lockerungen kommen, eigentlich müssten sie schon gekommen sein. Doch es wird dementiert, lamentiert, ausgewichen, Entscheidungen werden verschoben, im stillen Kämmerlein diskutiert.
Die Situation ist derweil ernüchternd: Teile der Wirtschaft stehen nach rund sieben Wochen Shutdown vor dem Abgrund: Reise- und Tourismusbranche, Gastronomie, Messen, Veranstalter, Kulturschaffende und deren Dienstleister, Sport- und Freizeitbranche, Einzelhandel, Medien. Es werden schon jetzt je nach Branche bis zu 50% Insolvenzen der Betriebe befürchtet. Die Lufthansa verhandelt mit dem deutschen Staat über Hilfen in Höhe von rund zehn Milliarden Euro. Eine Einigung steht offenbar bevor. Die Arbeitslosenzahlen steigen rapide. Laut einer Prognose des ifo Institut München vom 15. April [4] erreichen die Kosten bei einer Shutdown-Dauer von drei Monaten 354 bis 729 Mrd. Euro, beim Bruttoinlandsprodukt (BIP) wird mit einem Minus von 10,0 bis 20,6 Prozentpunkte gerechnet. Am Arbeitsmarkt könnten bis zu 1,8 Mio. sozialversicherungspflichtige Arbeitsplätze abgebaut werden und mehr als 6 Mio. Arbeitnehmer von Kurzarbeit betroffen sein. Inzwischen sind bereits über 10 Millionen Menschen in Kurzarbeit, in der Gastronomie sogar 93% aller Beschäftigten. Der letzte Satz dieser ifo Studie lautet: „Angesichts dieser Kosten ist es besonders dringlich, Strategien zu entwickeln, um die Wiederaufnahme der Wirtschaftstätigkeit mit dem Eindämmen der Corona-Epidemie vereinbar zu machen.“ Und mir geht der Text eines Karnevals-Schlager durch den Kopf. „Wer soll das bezahlen? Wer hat das bestellt? Wer hat so viel Pinke-Pinke, wer hat so viel Geld?“
In der Bevölkerung rumort es, erste größere Demonstrationen formieren sich. Die Menschen wollen sich nicht mehr länger einsperren lassen, sehnen sich nach Normalität. Häusliche Gewalt und sexuelle Übergriffe nehmen zu. Die Maßnahmen sind teilweise seltsam bis nicht nachvollziehbar. Warum darf ein Geschäft mit 700 m² öffnen, während eines mit 900 m² nicht öffnen darf oder seine Ladenfläche reduzieren muss? Warum dürfen Individualsportarten wie Golf oder Tennis nicht betrieben werden, wenn man Golf sogar alleine spielen oder beim Tennis ausreichend Abstand halten könnte? Kurios: Auf der Grenze zwischen Bremen und Niedersachsen darf der Bremer Teil des Golfplatzes bespielt werden, der von Niedersachsen nicht.
Die Kritik an der Regierung und am RKI wird immer lauter. Beachtlich der Auftritt von Hardliner Söder am 3. Mai bei Anne Will, als er verbal auf Distanz zum RKI ging: Wichtig wäre es, „dass wir vom Robert-Koch-Institut mal eine verlässliche Zahl bekommen, ab wann es gefährlich wäre“, sagte Söder mit Blick auf die Debatte des Lockdowns. [5] Bis heute hat das RKI wichtige Fragen zum Corona-Virus und der Pandemie nicht oder nicht hinreichend beantwortet, geschweige denn sich damit beschäftigt:
Wie viele Menschen wurden tatsächlich mit Covid-19 infiziert, wie hoch ist die Dunkelziffer?
Nur wenn wir das wissen, können wir beurteilen, ob bei Teilen der Bevölkerung schon eine Immunität vorliegt. Auch eine gewisse Grundimmunität aufgrund einer früheren Erkrankung mit anderen Coronaviren wird diskutiert. In Schweden zeigt eine Teilstudie der Stockholmer Technischen Hochschule KTH bei bereits 20 % der Untersuchten Antikörper, die auf eine durchlaufene Covid-19-Infektion hinweisen. Die Gesundheitsbehörde rechnet noch vor Mitte Mai mit einem Anteil von 25% der Bevölkerung. Sollte das stimmen, wäre Schweden auf einem guten Weg, eine Herdenimmunität zu erreichen.
Wie viele Menschen sterben mit Corona und wie viele sterben an Corona? Wie viele Menschen sterben mit oder wegen schweren Vorerkrankungen? Wie hoch ist die Letalität des Covid-19-Virus tatsächlich?
Auch hier gibt es keine genauen Fallzahlen. Daraus könnte man allerdings wichtige Zahlen ableiten, auch die Sterblichkeitsrate könnte sich dadurch signifikant ändern. Der Hamburger Pathologe und Rechtsmediziner Professor Klaus Püschel [6] sagt, Covid-19 sei eine ernste, aber keine besonders gefährliche Erkrankung. Die Liste der Viren sei lang, es gebe viele Infektionen, mit denen wir zu leben gelernt haben. Nach und nach entstehe dann eine Herdenimmunität. Er hoffe, dass sich das Corona Virus baldmöglichst in die Liste dieser Infektionen einreihe. Wichtiger sei es, Risikogruppen, Menschen mit Vorerkrankungen zu schützen. Püschel stellte fest, dass die von ihm obduzierten Menschen an schweren Vorerkrankungen litten und „auch wenn es hart klingt, viele im Verlauf dieses Jahres ohnehin gestorben wären“. Viele hätten mehrere Krankheiten gleichzeitig gehabt. In 99 Prozent der Fälle seien es andere Erkrankungen, die wieder normale Aufmerksamkeit bekommen müssten. Das gelänge nur, wenn zugelassen wird, dass sich mehr Menschen mit dem Corona-Virus infizieren. Andernfalls, wenn keine großflächige Immunität geschaffen wird, bedeute das eine sehr lange Zeit der Isolation. Prof. Sucharit Bhakdi [7], Mikrobiologe, Infektionsepidemiologe und emeritierter Professor der Johannes Gutenberg-Universität Mainz, schrieb bereits am 26.3. einen offenen Brief an Bundeskanzlerin Angela Merkel und vertritt darin seine Bedenken. Er hinterfragte fünf Punkte: Statistik, Gefährlichkeit, Verbreitung, Mortalität und Vergleichbarkeit des Corona Virus in Deutschland. In verschiedenen Interviews [8] vertritt er seine Meinung, dass das Virus vergleichbar mit einem Grippevirus sei und die getroffenen Maßnahmen gegen die Ausbreitung des Corona Virus „sinnlos“ und „selbstzerstörerisch“. Für ihn sind die aktuellen Maßnahmen nicht mit dem Grundgesetz vereinbar. Für diese Einschätzung der Corona-Krise wird er in eine Ecke mit Verschwörungstheoretikern gestellt.
Am 26. April meldete sich Bundestagspräsident Wolfgang Schäuble im Rahmen eines Interviews mit dem Tagesspiegel [9] vieldiskutiert zu Wort: „Wenn es überhaupt einen absoluten Wert in unserem Grundgesetz gibt, dann ist das die Würde des Menschen. Die ist unantastbar. Aber sie schließt nicht aus, dass wir sterben müssen.“ Damit brachte Schäuble wichtige Fragen der Ethik ins Spiel, was wieder zu der Frage führt: Sind die aktuellen Maßnahmen maßvoll und gerechtfertigt? Verstoßen aktuelle Verbote gegen unser Grundgesetz?
Angesichts dieser Lage wäre unsere Politik gut beraten, schnellstmöglich zu handeln und zur Normalität zurückzukommen. Doch eine klare Strategie gibt es in Deutschland (noch) nicht. Österreich will ab 15. Mai die Gastronomie wieder öffnen. Wie soll es bei uns weitergehen? Wie soll ein „Lockdown“ aussehen, wie schnell und in welchen Bereichen sollte er umgesetzt werden? Sind die bisherigen Maßnahmen noch sinnvoll und vor allem maßvoll? Wie lange soll die Wirtschaft noch heruntergefahren werden? Bis Ende August, bis Ende 2020, bis Mitte 2021? Denn so lange soll es wohl dauern, bis ein Impfstoff vorliegt. Bis dahin wäre unsere Wirtschaft am Ende, Millionen Bürger überschuldet, Millionen Betriebe und Existenzen zerstört.
Ich kann mich noch an die „Schweinegrippe“ 2009/2010 [10] erinnern. Damals wurde anfangs Angst und Panik verbreitet, Deutschland wollte die gesamte Bevölkerung impfen lassen. Anfang Juni 2009 wurde die Schweinegrippe als Pandemie eingestuft. Im August 2010 erklärte die WHO die Pandemie für die Schweinegrippe angesichts der geringen Pathogenität für beendet. Die damalige Regierung ruderte erst spät zurück, rund 83% der vom Bund und den Ländern gekauften Impfstoffe mussten mit großem Aufwand vernichtet werden. Bis heute wird darüber diskutiert, ob die Impfungen nicht einen größeren Schaden angerichtet hatten als das Virus selbst. Heute ist nicht nur die Schweinegrippe vergessen, auch haben wir größtenteils gar nicht bemerkt, dass die letzte schwere Grippewelle 2017/18 nach Schätzungen des RKI rund 25.100 Menschen in Deutschland das Leben gekostet hat. [11] An (oder mit) Corona starben in Deutschland bislang 6.866 Menschen. [12] Sind wir auf dem Holzweg?
Fußnoten
1. https://coronavirus.jhu.edu/
https://interaktiv.morgenpost.de/corona-virus-karte-infektionen-deutschland-weltweit/
2. https://www.tagesschau.de/inland/coronavirus-357.html
3. https://interaktiv.morgenpost.de/corona-deutschland-intensiv-betten-monitor-krankenhaus-auslastung/
https://www.zeit.de/2020/18/kliniken-coronavirus-intensivbetten-patienten-behandlung-notaufnahme
4. https://www.ifo.de/node/53961
https://www.n-tv.de/politik/Endlich-Exit-Plan-Ab-Ende-Mai-vielleicht-article21756248.html
6. https://de.wikipedia.org/wiki/Klaus_P%C3%BCschel
7. https://de.wikipedia.org/wiki/Sucharit_Bhakdi
https://swprs.files.wordpress.com/2020/03/sucharit-bhakdi-letter-merkel.pdf
8. https://www.youtube.com/watch?v=Y_DgrJXF0IU
https://www.youtube.com/watch?v=dwJSNPz_8uk
10. https://de.wikipedia.org/wiki/Pandemie_H1N1_2009/10
11. https://www.aerzteblatt.de/nachrichten/106375/Grippewelle-war-toedlichste-in-30-Jahren
12. https://interaktiv.morgenpost.de/corona-virus-karte-infektionen-deutschland-weltweit/