Der Odenwald und der Kraichgau waren 2020 vor große Herausforderungen gestellt. Im Gespräch mit MORITZ-Redakteur Riccardo Terrasi blickt der Sinsheimer Oberbürgermeister Jörg Albrecht auf ein bewegtes Jahr zurück.
Wie blicken Sie auf 2020 zurück?
Für uns war es ein total außergewöhnliches Jahr. Eigentlich hatten wir in Sinsheim die Heimattage Baden-Württemberg, die wir leider absagen mussten. Es war für uns unvorstellbar, dass die Situation derartige Maßnahmen erfordern würde. Das hat mich sehr betroffen gemacht. Insgesamt blicke ich mit Traurigkeit ins Jahr 2020 zurück. Die Einschränkungen, die man seit März erleben musste, die schlechten wirtschaftlichen Entwicklungen, die Rückgänge in der Gastronomie, im Einzelhandel und so weiter ist für unsere Stadt natürlich extrem. Große Sorge bereitet mir auch die Frage, was von unserer Vereinslandschaft am Ende der Krise noch übrig sein wird. Das wird unsere Gesellschaft ganz entscheidend in den nächsten Jahrzehnten prägen. Darüber mache ich mir viele Gedanken.
Was ging Ihnen durch den Kopf, als Sie das erste Mal von Covid-19 gehört haben?
Ich war gerade im Urlaub im Schwarzwald und habe es mit einer gewissen Skepsis in den Medien verfolgt. Ich hätte es nie für möglich gehalten, dass dieses Virus mal so um sich greifen und die ganze Gesellschaft lahmlegen würde. Ich glaubte eher, es wäre wie bei anderen Krankheiten, zum Beispiel der Schweinegrippe oder Vogelgrippe. Aber dass eine ganze Gesellschaft lahmgelegt wird und wir völlig neue Formen des Zusammenlebens kennenlernen müssen, dass hätte ich niemals erwartet. Wer mich kennt weiß, dass ich ein sehr geselliger Mensch bin, der gern mit Leuten unterwegs ist und gern Gespräche führt. Das musste natürlich alles eingeschränkt werden. Ich bin aber froh darüber, dass wir die Heimattage relativ frühzeitig abgesagt haben. Das hat sich als genau richtig erwiesen. Wir gehörten auch zu den ersten Städten, die den Weihnachtsmarkt abgesagt haben – schon im Juli. Wir hörten deswegen auch einige kritische Stimmen.
Aufgrund der vielen Veranstaltungen haben wir uns intensiv mit dem Thema Corona beschäftigt und uns war klar, dass es im Jahr 2020 nichts mehr werden würde. Und ich sehe es leider auch 2021 nicht. Ich denke leider, dass wir vor Mitte das Jahres nicht in einen normalen Modus kommen werden.
Was waren für Sie die größten Herausforderungen im vergangenen Jahr?
Herausfordernd war der Krisenstab der Stadt Sinsheim, denn bereits Anfang März eingerichtet haben und bei dem es darum ging, den Unternehmen zur Seite zu stehen. Auch das Thema Schulen und Kindergärten hat mich sehr bewegt. Es ist eine riesen Aufgabe in unserer Stadt. Wir haben in eigener Trägerschaft drei große Schulen mit fast tausend Schülern: das Gymansium, die Realschule und die Theodor-Heuss-Schule, dazu viele Grundschulen und Kindergärten: Das war eine große Herausforderung.
Ferner hatte ich das Ohr am GRN (Gesundheitszentren Rhein Neckar), und mitzubekommen, was die Pflegekräfte leisten, das hat mich sehr bewegt.
Was können Sie dem Jahr 2020 Positives abgewinnen?
Ich finde es gut, dass vielen Menschen und Situationen heute eine besondere Wertschätzung entgegengebracht wird. Auch die Hilfsbereitschaft der Leute untereinander ist teilweise sehr ausgeprägt. Viele Menschen fragen heute: Kann ich etwas für jemand anderen tun? Es könnte sein, dass dies heut öfter vorkommt als in früheren Jahren. Ich denke, die Gesellschaft ist ein Stück weit enger zusammengewachsen.
Was hat sie abseits von Corona besonders beschäftigt?
Im Marz war relativ schnell klar, dass uns die Finanzen wegbrechen. Das war für Sinsheim katastrophal, weil wir einige Großprojekte am Laufen haben und in Abstimmung mit den kommunalen Gremien die Frage zu beantworten war, welche Projekte wir trotz wegbrechender Einnahmen durchziehen. Das war sehr nervenaufreibend. Einige Großprojekte, die mir persönlich sehr am Herzen liegen, mussten wir absagen. Dazu gehört die Sanierung der Kraichgau Realschule – sie stand eigentlich auf meiner Tagesordnung ganz oben, denn ich sage, eine Gesellschaft zeichnet sich durch gute Schulstandorte aus. Das mussten wir zunächst Canceln oder verschieben. Ein zweites Großprojekt war das neue Feuerwehr-Gerätehaus, über das Sinsheim ja schon seit Jahrzehnten spricht und was längst überfällig ist. Auch das ist nun leider dem Rotstift zum Opfer gefallen.
Wo steht Sinsheim Ende 2020?
Wir stehen relativ gut dar – als Stadt sind wir wirtschaftlich relativ gut durch die Krise gekommen. Mit anderthalb blauen Augen sind wir aus dieser Geschichte herausgekommen. Zwar mussten wir einige Maßnahmen verschieben, konnten aber auch einiges fertigstellen. Was mir allerdings Sorgen bereitet, ist die Innenstadt. Wie entwickelt sich der Einzelhandel weiter? Es besteht leider die Gefahr, dass Ladengeschäfte schließen. Das macht mir sorgen. Insgesamt muss ich aber resümieren, dass wir bislang noch relativ gut durch diese Angelegenheit durchgekommen sind.
Wie sehen Sie Sinsheims Entwicklung im kommenden Jahr?
Ich sehe sie mit großer Sorge. Es wird momentan alles Hoffnung in einen Impfstoff gelegt. Mediziner sagen allerdings, dass es erst einmal eine gewisse Zeit dauert, bis der Impfstoff seine Wirkung entfaltet. Es müssten sechzig Millionen Deutsche geimpft sein, damit er überhaupt flächendeckend das Virus eindämmt. Viele Leute lassen sich zudem nicht impfen, was das Szenario noch verschärfen würde. Nach meiner Einschätzung werden wir auch mit dem Impfstoff nicht so schnell in eine Normalität zurückkehren können. Ich denke, wir werden auch das erste Halbjahr 2021 in einer Form erleben, wie wir es eigentlich nicht erleben wollten, nämlich noch mit vielen Einschränkungen. Auch was Veranstaltungen angeht, wird es sicher nicht viel besser werden.
Große Sorgen bereitet mir der wirtschaftliche Aspekt: Wie geht es weiter mit unserer Wirtschaft? Auch das Kurzarbeitergeld ist zeitlich begrenzt und wie lange haben die Leute überhaupt noch Geld zur Verfügung? Auch was die Kommunalfinanzen betrifft, sehe ich düstere Zeiten auf uns zukommen. Das Haushaltsjahr 2020 hat noch Grundlagen aus den vergangenen Jahren, wo unsere Konjunktur noch gut lief. Nach meiner Einschätzung wird sich das 2021/2022 noch dramatisch im negativen Sinne ändern. Das macht mir große Sorgen. Denn wenn wir Kommunen nicht mehr in der Lage sind zu investieren, wird es eine Abwärtsspirale geben.
Was wünschen Sie sich persönlich für das kommende Jahr?
Ich wünsche mir, dass wir zumindest unseren gewohnten Alltag wieder zurückbekommen. Ich mache mir große Sorgen um die Entwicklung unserer Gesellschaft, gerade, was das Zwischenmenschliche anbelangt. Wenn diese Situation noch lange andauert, sehe ich kritische Zeiten, was das unser Miteinander angeht. Viele Leute dürfen sich nicht treffen, denken Sie an die Senioren. Wenn ich heute Leute besuche, zu runden Geburtstagen oder goldenen Hochzeiten, da war niemand dabei, der nicht zumindest feuchte Augen hatte. Da sieht man, was die Isolation für diese Generation bedeutet. Was ich an meinen eigenen Töchtern sehe – sie sind 17 und 21 – ist, was es für gravierende Auswirkungen auf sie hat. Wen ich mich an meine eigene Kindheit erinnere, war es das Größte, mich nach der Schule mit Freunden zu treffen und was zu unternehmen. Heute sind die Kinder dazu gezwungen, daheim zu hocken. Wenn das die Zukunft sein soll, habe ich da große bedenken.