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Die Männer beim Tischtennisspiel
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Syrer Nieaz über sein neues Leben in Deutschland
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Die Schlafstetten in Neuenstadt
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Nieaz und Solzialarbeiterin Carmen Randolf
3.400 Kilometer sind es von Aleppo, der zweitgrößten Stadt Syriens, bis in die deutsche Hauptstadt Berlin. 3.400 Kilometer, die über Freiheit oder den Tod entscheiden. Nieaz ist 27 Jahre alt und begrüßt mich freundlich in der Notunterkunft für Flüchtlinge in Neuenstadt am Kocher. Seine Augen sind leuchtend grün und er lächelt immerzu. Vor drei Jahren bedeuteten die 3.400 Kilometer für Nieaz die Freiheit – viele seiner Freunde und Verwandten haben es nicht geschafft. Als 2011 der Bürgerkrieg in Syrien in Folge des arabischen Frühlings ausbricht, hätte sich der studierte Journalist niemals träumen lassen, dass er sein Land, seine Eltern, seine gebliebte Frau und die Geschwister zurücklassen muss, um zu überleben. Doch bevor der Syrer als Kriegsflüchtling Asyl in Deutschland fand, war es ein steiniger Weg. Zu Fuß überquerte der damals 24-Jährige in einer Nacht-und-Nebel-Aktion die syrisch-türkische Grenze. Von der Türkei aus schlug er sich dann mit Hilfe von Schleppern und einer gefährlichen Überfahrt durch das Mittelmeer bis nach Griechenland durch. In Athen fand er schließlich einen Schmuggler, der ihm für tausende Dollar falsche Papiere organisierte – und tatsächlich: Nieaz schafft es damit bis nach Deutschland. Am Berliner Flughafen nimmt ihn die Polizei in Gewahrsam und sorgt für seine Unterbringung in einem Asylantenheim. Drei Jahre ist das her. Drei Jahre, in denen Nieaz gelernt hat, den Schmerz der Vergangenheit hinter seinen funkelnden grünen Augen und seinem herzlichen Lächeln zu verbergen. Was er durchgemacht haben muss, kann man nur erahnen. Doch Nieaz hat es geschafft, er kann stolz auf sich sein: Er lebt und arbeitet nun in Deutschland. Sein Asylgesuch wurde gewährt und er hat es sich zur Aufgabe gemacht, als Sozialarbeiter für seine Leidensgenossen da zu sein. Der 27-Jährige übersetzt, hört zu, hilft. Sein Deutsch ist gebrochen, aber er arbeitet stetig daran, es zu verbessern. Sogar eine kleine Wohnung kann er mittlerweile sein eigen nennen.
79.000 Menschen auf der Flucht
Was der junge Journalist erreicht hat, davon träumen viele seiner Landsleute. Rund 4 Millionen Syrer leben auf der Flucht im Ausland – ohne zu wissen, was der morgige Tag bringen wird, und immer mit der Hoffnung, es ins sichere Europa zu schaffen. Seit Beginn des Krieges im März 2011 wurden schätzungsweise 220.000 Zivilisten, Soldaten, Frauen und Kinder in dem Staat in Vorderasien getötet. Obdachlosigkeit, Hunger und Todesangst sind bei den Überlebenden an der Tagesordnung. Wer genügend Geld und Mut aufbringen kann, der flieht. 79.000 Flüchtlinge aus Kriegsregionen wie Syrien, dem Irak und Afghanistan haben allein im Juli 2015 den Schritt in eine bessere Zukunft gewagt – das ist ein neuer Rekord und damit der höchste Einwanderungszugang aller Zeiten. Doch bis dato ließen auch 2.000 Menschen bei dem Versuch, das griechische Festland zu erreichen, ihr Leben im Mittelmeer. Gelingt die Flucht, die Überfahrt mit einem winzigen Schlauchboot und die Einreise nach Deutschland, erwartet die Ankömmlinge ihr neues Zuhause: Notunterkünfte in Deutschland.
270 Männer, sechs Nationen, eine Gemeinsamkeit
Notünterkünfte wie die in Neuenstadt am Kocher zum Beispiel. Riesige Zelte reihen sich auf dem Gelände der alten Autobahnmeisterei aneinander. Im Inneren stehen Stockbetten bereit. Persönliche Gegenstände oder Bilder gibt es nicht – auf der Flucht müssen ein Smartphone zur Orientierung und Bargeld genügen. Da die Landesaufnahmestellen für Flüchtlinge dramatisch überbelegt sind, handelte die Gemeinde Neuenstadt am Kocher und errichtete quasi über Nacht das Notlager für die rund 270 Männer. Syrer, Pakistanis, Serben – insgesamt sechs verschiedene Nationen leben in der Zeltstadt friedlich miteinander. Neben Kriegsflüchtlingen gewährt Neuenstadt auch politisch Verfolgten und Wirtschaftsflüchtlingen Asyl. Obwohl sie nicht unterschiedlicher sein könnten, teilweise nicht einmal dieselbe Sprache sprechen, haben sie dennoch alle eines gemein: Sie warten! Auf ein dauerhaftes Bleiberecht in Deutschland und darauf, ihre Familien nachholen zu können. Insgesamt 800.000 Asylbewerber sollen bis Ende des Jahres nach Deutschland kommen, so Bundesinnenminister Dr. Thomas de Maizière. Das wären etwa viermal so viele wie im Vorjahr. In der Zeit von Januar bis Juli 2015 haben insgesamt 218.221 Personen in Deutschland Asyl beantragt. Mit knapp 45.000 Anträgen ist das Hauptherkunftsland Syrien. Insgesamt 48.101 Personen (35,3 Prozent) wurde die Rechtsstellung eines Flüchtlings zuerkannt. Abgelehnt wurden die Anträge von 51.729 Personen (37,9 %).
Familiärer Umgang in Neuenstadt
Carmen Randolf ist Sozialarbeiterin bei European Homecare, einem mittelständischen Familienunternehmen, das sich auf soziale Dienstleistungen spezialisiert hat. Ihr Arbeitsplatz: die Landesaufnahme für Flüchtlinge in Ellwangen. Die sogenannten LEAs sind die ersten Anlaufstellen für Flüchtlinge und Asylbewerber. Anders als in Neuenstadt leben in Ellwangen zum größten Teil Familien in einer ehemaligen Kaserne. Doch an diesem Tag ist Carmen Randolf in Neuenstadt, macht sich ein Bild der Lage, unterstützt ihre Kollegen, nimmt sich Zeit für mich und zeigt mir zusammen mit ihrem Kollegen Nieaz in aller Ausführlichkeit die Gegebenheiten der Neuenstädter Zeltstadt. »Wir sind hier wie eine kleine Familie«, lacht sie und das spürt man auch. Die Bewohner des Notlagers nennt sie nicht Flüchtlinge, sondern Gäste. Das ist ihr wichtig, denn »hier sollen sich alle willkommen fühlen. Wir sorgen dafür, dass sie Raum und Nahrung bekommen«. Der freundliche und familiäre Umgang ist deutlich bemerkbar und macht die schwierige Situation für alle Beteiligten leichter. In drei Schichten arbeiten rund um die Uhr Sozialarbeiter, Ehrenamtliche und Psychologen vor Ort. Ich folge Frau Randolf in den Speiseraum der Zeltstadt – einer großen Lagerhalle. Freundlich begrüßen uns zwei Männer. »Das sind freiwillige Arbeiter. Die Männer können sechs Stunden pro Tag in der Essensausgabe arbeiten oder sie kümmern sich um andere Dinge, die anfallen«, erzählt mir die Sozialarbeiterin, während mir einer der Männer einen Tee reicht. »1,05 Euro beträgt der Stundenlohn für diese Art der Arbeit. Doch, die meisten hier wollen gar nicht bezahlt werden. Sie wollen sich wohl fühlen, eine Aufgabe haben und sich nützlich machen.« Neben einer sicheren Unterkunft, einer warmen Mahlzeit und Kleidung ist den Gästen Neuenstadts eines besonders wichtig: Strom! Denn sobald eine Steckdose auf dem Gelände frei wird, werden alle Smartphones geladen. Ein aufgeladener Akku ist für die Männer hier elementar – denn nur so können sie Kontakt zu ihren Familien aufnehmen und erfahren, wie es den Zurückgebliebenen geht. Carmen Randolf erzählt mir von einem jungen Mann, der Frau und Kind in Syrien zurücklassen musste und seinem emotionalen Ausbruch, als er diese telefonisch nicht erreichen konnte: »Er hat bitterlich geweint, weil er natürlich nicht wusste, ob die beiden noch am Leben sind.«
»Wir benötigen dringend festes Schuhwerk«
Vor der Kleiderausgabe stehen zehn Männer in einer Schlange und warten auf Einlass. Ein Security-Mitarbeiter sichert die Türe und lässt sie nach und nach in die Kleiderkammer eintreten. Nieaz und ich gehen hinein und mir fällt sofort auf, dass es für die Anzahl an Menschen, die derzeit in Neuenstadts Notlager leben, viel zu wenige Kleidungsstücke gibt. »Wir brauchen dringend Spenden. Besonders geschlossene Schuhe sind Mangelware und so müssen unsere Gäste oft bei Regen und Kälte in ihren kaputten Flip Flops herumlaufen«, erzählt Frau Randolf. Sach- und Kleiderspenden können 24 Stunden am Tag, sieben Tage die Woche an der Pforte des Zeltlagers in Neuenstadt abgegeben werden und sind dringend nötig! Gerade hat ein Mann aus der Nachbarschaft der Flüchtlinge einen Röhrenfernseher gespendet. Die Männer packen sofort mit an und helfen dem Spender, den schweren Fernseher in das Verwaltungsgebäude zu tragen. »Uns ist mit jeglicher Unterstützung geholfen. Wir freuen uns nicht nur über Kleider- und Schuhspenden, sondern auch über ehrenamtliche Helfer, die gerne Zeit mit unseren Gästen verbringen wollen. Jeder kann etwas beitragen. Sei es mit einem Mal- oder Sprachkurs oder einer Exkursion durch die Umgebung. Jeder, der etwas tun möchte, ist hier immer herzlich willkommen«, betont Randolf. Nicht nur durch ihre Spenden und ihre offene Art haben die Neuenstädter ihre neuen Bewohner willkommen geheißen. »Die Deutschen sind sehr freundlich. Ich bin froh, hier zu sein«, gesteht Nieaz, der sich perfekt integriert hat und in seiner Arbeit voll und ganz aufgeht. Zum Ende unseres Gespräches gesteht er mir mit trauriger, aber hoffnungsvoller Stimme: »Ich möchte hier bleiben. Nach Syrien gehe ich nie wieder zurück – Deutschland ist jetzt meine Heimat«. Und mir bleibt nichts anderes zu sagen als »herzlich willkommen, Nieaz«. Julia Hohn