Foto: Torsten Rothe
Nick Cave in der Liederhalle
Achtung Spoileralarm! Wer jetzt erwartet, dass im Folgenden eine kritisch-objektive, minutiös aufgearbeitete Auseinandersetzung mit dem Konzert von Nick Cave in der Stuttgarter Liederhalle kommt, der sollte sich vielleicht bei anderen Medien umschauen. Jeglicher Versuch, kritisch und objektiv zu bleiben, wurde spätestens nach dem dritten Song weggeblasen. Was folgt, ist viel mehr das Abfeiern eines Abends, der noch Jahre in Erinnerung bleiben wird. Mindestens. Und eines Mannes, auf den eigentlich keine Beschreibung passt. Außer „Nick Cave“.
Kann Schmerz schön sein? Kann Traurigkeit glücklich machen? Kann Wut Freude auslösen? Kann Finsternis heller strahlen als jeder Sonnenstrahl? Ja, sie können. Nicht oft, aber wenn, dann umso berührender, ergreifender, packender, emotionaler. Jeder einzelne Besucher, der sich am 7. Mai im Beethoven-Saal eingefunden hat, kann ein Lied davon singen, eine Arie, eine ganze Oper.
Ob am Flügel sitzend, mit eindringlichem Blick auf der Bühne stehend oder diese lässig-schlacksig mit oft scheinbar unkoordinierten Bewegungen auf und ab laufend – Nick Cave braucht keine großen Gesten und noch viel weniger braucht er große Ansprachen, um genau dort zu landen, wo Musik hingehört. Es dauert kaum messbare Momente, da ist das Publikum Wachs in seinen Händen. Er betritt die Bühne und eine düstere, finstere Aura umschließt den Saal. Keiner kann ihr entkommen. Warum auch? Man begibt sich gerne in die Fänge des Unerklärlichen und der Dunkelheit. Die Versuchung des Bösen ist zu groß, als dass man ihr widerstehen kann. Zwischen Himmel und Hölle, zwischen Gott und Teufel ist viel Platz. Und Nick Cave braucht diesen. Sein Charisma ist überwältigend.
Jedes seiner Wörter, jeder Ton seines Flügels, jeder Schlag des Drummers Thomas Wydler, jede Taste des Keyboarders Barry Adamson, jedes Zupfen des Bassisten Martyn Casey und jeder Klang des genialen Multiintrumentalisten Warren Ellis kriechen an diesem Abend am Boden entlang, packen einen an den Zehen, kämpfen sich im Körper hoch, stellen rund um die Magengegend ein furchtbares Chaos an, wandern weiter übers Herz in den Kopf, um sich dann wieder auf den Rückweg zu machen. Ob eng umschlungen mit seiner Partnerin oder allein mit verschränkten Armen, sitzend oder stehend, mit geschlossenen Augen träumend oder gebannt mit weit aufgerissenen Pupillen auf den Mann im dunkelblauen Anzug blickend – es spielt keine Rolle, wie man diesen 57-Jährigen erlebt. Die Wirkung ist immer gleich. Bei Stücken wie „The Ship Song“, „Into My Arms“, „Love Letter“ oder „Push The Sky Away“ hat man Gänsehaut, es läuft einem kalt den Rücken runter und wärmt zeitgleich das Innere des Brustkorbs. Man hat feuchte Augen voller Trauer und ein Lächeln auf den Lippen. Man möchte sterben und ist froh, am Leben zu sein.
Doch Nick Cave kann auch anders. Nicht nur drückend schwer, melancholisch. Er entfaltet mit seiner Band mitunter eine donnernde Wucht, die in ihrer Kraft jeden Orkan in den Schatten stellt. Sie kommt so plötzlich wie sie wieder verschwindet, ist deshalb umso bleibender. Es ist nicht nur die Lautstärke, es ist diese einmalige Intensität und das oft improvisiert anmutende Spiel, die noch Tage, noch Wochen, noch Monate in den Köpfen der Besucher nachhallen werden. In diesen Momenten wird man aus seiner Melancholie herausgerissen, mit Sitzen ist dann schon lange nicht mehr. Die vor dem Konzert vorbestimmte Sitzordnung war eh unlängst über den Haufen geworfen.
Zweieinhalb Stücke lang („Water's Edge“ und „The Weeping Song“) ging das gut, die Besucher saßen brav auf ihre Plätzen, lauschten gebannt. Während „Red Right Hand“ reichte eine simple einladende Handbewegung Caves aus – nein, er braucht keine großen Gesten –, um all die Ordnung in ein herrliches Chaos zu tauchen. Die Besucher stürmten vor die Bühne, Securities waren sichtlich überrascht, Nick Cave genoss es sichtlich. Er ging auf Tuchfühlung mit seinen Fans, war ihnen ganz nah, ließ sie buchstäblich seinen „Heartbeat“ fühlen. Wer wie viel für die Karte bezahlt hat, spielte keine Rolle. Und selbst wenn sich heute einige darüber aufregen sollten, dass sie für das selbe Erlebnis mehr bezahlt haben als andere. Mal ehrlich, das, was man nach diesen gut zwei Stunden mit nach Hause nimmt, ist unbezahlbar. Am Ende bleibt nur eines noch zu sagen: „Danke!“