Seit 2011 ist Winfried Kretschmann Ministerpräsident von Baden-Württemberg. Der ehemalige Gymnasiallehrer zählt zu den erfahrensten und bekanntesten Politikern des Landes. Er erfreut sich einer hohen Beliebtheit im Ländle, auch wenn das Corona-Krisenmanagement seiner Regierung zunehmend kritisch gesehen wird. Trotzdem geht Kretschmann als klarer Wahlfavorit ins Rennen. Im MORITZ-Interview blickt der Landesvater zurück auf die Erfolge der vergangenen Legislaturperiode, erklärt, wie er die politische Beteiligung durch einen Bürgerrat erhöhen möchte, spricht über die Corona-Soforthilfe-Programme und zeigt sich zuversichtlich für künftige Aufgaben.
Der aktuelle Wahlkampf steht ganz im Zeichen der Corona-Pandemie. Wie schwierig ist es für Sie einen direkten Draht zu den Sorgen und Nöten der Bürgerinnen und Bürger zu bekommen?
Wir befinden wir uns gerade in der schwierigsten Phase der Pandemie, da bleiben kaum Kapazitäten für irgendwas anderes. Da kommt man nicht in Wahlkampfstimmung. Ich muss mit meiner Koalition in dieser Krise bis ja zum letzten Tag regierungsfähig sein. Natürlich gibt es Online-Formate, um den Bürgerinnen und den Bürger unser Programm nahe zu bringen – aber den direkten Kontakt zu den Menschen vermisse ich sehr.
Von der Flüchtlings- bis zur Corona-Krise, die aktuelle Legislaturperiode stand medial betrachtet in einer Art permanentem Krisenmodus. Wie bewerten Sie Ihre Arbeit in den vergangenen Jahren?
Es gibt viele Dinge, die uns gut gelungen sind. 2016 haben wir zum Beispiel 1100 Jesidinnen aus dem Nordirak aufgenommen und sie vor dem Terror des IS schützen können. Oder nehmen wir das Thema Umwelt: Wir haben die Mittel für den Naturschutz verdreifacht, einen Nationalpark geschaffen und das fortschrittlichste Artenschutzgesetz der Republik verabschiedet, gemeinsam mit Naturschützern und Landwirten. Nicht zu vergessen die Verankerung unserer Politik des Gehörtwerdens, also die systematische Beteiligung von Bürgerinnen und Bürgern an politischen Entscheidungen und Diskussionen.
Gerade die Landeshauptstadt Stuttgart ist unter den Stichworten Stuttgart 21 und Querdenken als eine Protesthochburg bekannt. Wie stehen Sie zu dieser Form des Protestes?
Zivilisierter Streit um die Sache ist unabdingbar in unserer Demokratie. Aber unser Grundgesetz gibt klare Spielregeln vor. Wer sich daran nicht hält, hat sein Recht auf Protest verwirkt. Die Radikalisierung der Querdenker-Demos macht mir Sorge. Und grundsätzlich gilt: Wer in der Demokratie was bewegen will, muss über den Protest hinausgehen und Mehrheiten suchen für die eigenen Überzeugungen. Und das funktioniert nur im Diskurs mit Argumenten. Das heißt: Wir müssen reden, reden, reden.
Was ist für Sie die wichtigste Aufgabe in der kommenden Legislaturperiode?
Die Zwanziger-Jahre sind ein Jahrzehnt der Entscheidungen. In dieser Dekade geht es darum, den wirtschaftlichen Strukturwandel zu meistern, unseren Wohlstand zu sichern, unsere liberale Demokratie zu verteidigen, den Zusammenhalt der Gesellschaft zu stärken und den Klimawandel zu begrenzen. Ich will unser Land zum Vorbild für klimaverträgliches Wirtschaften machen. Und ich möchte meine Politik des Gehörwerdens auf eine neue Stufe heben. In Zukunft soll gelten: Kein wichtiges Vorhaben oder Gesetz ohne Bürgerrat aus zufällig ausgewählten Bürgerinnen und Bürgern.
Passend zum Wahlkampfauftakt scheint es in Ihrem Kabinett einige Spannungen zu geben. Wäre grün-schwarz weiterhin Ihre Wunschkoalition im nächsten Landtag?
Mit der Bildung einer neuen Koalition beschäftige ich mich gerne ab dem 15. März. Koalitionsdebatten vor der Wahl bringen einfach nichts, vor allem nicht in so einer Krise.
Gerade die Kultur-, Gastronomie- und Eventbranche haben schwer an den Folgen der Pandemie zu leiden. Welche konkreten Hilfsmaßnahmen für diese Branchen planen Sie?
Mit dem fiktiven Unternehmerlohn in Höhe von 1.1180 Euro ist Baden-Württemberg beispielhaft vorangegangen, um Soloselbstständige und Freischaffende zu unterstützen. Wir haben immer darauf gedrängt, dass der Bund unserem Beispiel folgt. Mit sogenannten Neustarthilfe im Rahmen der Überbrückungshilfe III wird unser Modell jetzt weitgehend vom Bund übernommen. Mit einem Zusatzplus: Sie kann erstmals im ganzen Bundesgebiet beantragt werden - also auch von Solo-Selbstständigen und Kulturschaffenden, die in Baden-Württemberg arbeiten, aber in einem anderen Land angemeldet sind. Die Stabilisierungshilfe Corona für das Hotel- und Gaststättengewerbe als existenzsichernde Alternative zur Überbrückungshilfe III des Bundes haben wir für das erste Quartal 2021 verlängert. Und für die Kulturbranche hat das Land schon mehr als 200 Millionen Euro an Corona-Hilfen zur Verfügung gestellt, unter anderem 75 Mio. Euro flossen über die Soforthilfen an Künstlerinnen und Künstler. Hinzu kommen ein Corona-Hilfsfonds für Kunst- und Kultureinrichtungen (32,5 Mio.), ein Soforthilfeprogramm für die Vereine der Breitenkultur (10 Mio.) und die Programme »Kultur Sommer 2020« (4 Mio.) sowie das Programm »Kunst trotz Abstand« (7,5 Mio.).
Was wäre Ihr größter Wunsch für die kommende Legislaturperiode?
Vor uns liegen gewaltige Aufgaben. Im Zentrum steht für mich, das Land nachhaltig aus der Krise zu führen. Wir haben gesehen, dass unsere Gesellschaft verletzlicher ist als wir vermeintlich glauben. Umso mehr gilt es die Widerstandskräfte zu stärken – in der Wirtschaft, im Gesundheits- und Sozialwesen, in der digitalen Bildung. Gleichzeitig hat die Krise auch gezeigt: Wir haben eine lebendige Bürgergesellschaft und ein wohlgeordnetes Gemeinwesen, auf das wir uns verlassen können. Wir sind kreativ und schaffig.