Foto: Patrick Pfeiffer
Der Postmichel
Die Sage vom »Postmichel« gehört zu Esslingen wie Kessler Sekt. Dass das düstere Stück beim diesjährigen Sommertheater der Württembergischen Landesbühne Esslingen unter freiem Himmel am Kessler-Platz direkt bei der Kellerei gezeigt wird, ist eine glückliche Fügung. Noch glücklicher ist allerdings die Gewissheit, dass endlich ein alter Fluch gebrochen scheint.
Es gibt da dieses eine Theaterstück in England, das mit einem ziemlich garstigen Fluch belegt ist. Jeder, der seinen Titel während der Proben laut ausspricht, wird schreckliches Unheil heraufbeschwören oder auf rätselhafte Weise verunglücken. Die Folge: William Shakespeares Klassiker »Macbeth« wird eben nicht mehr »Macbeth«, sondern nur noch »The Scottish play« genannt. Klaus Hemmerle kennt diesen Aberglauben. Der Stuttgarter arbeitet seit rund zehn Jahren deutschlandweit als freier Regisseur. An der Württembergischen Landesbühne in Esslingen hat er jetzt mit einem ganz ähnlichen Fall von Theaterfluch zu tun. Seit Jahrzehnten will man hier in der Region nämlich mal wieder den »Postmichel« für die Bühne adaptieren, seit der letzten Fassung in den Fünfzigern ist ordentlich Wasser den Neckar herabgeflossen.
Zeitgemäße Fassung der Esslinger Sage
Allein, es will nicht so recht funktionieren. Die Geschichte des Postreiters Michel Banhard, der auf dem Weg von Esslingen nach Stuttgart den Ring eines ermordeten Esslinger Bürgers findet und deswegen fälschlicherweise verurteilt und hingerichtet wird, während der Mörder ungeschoren davon kommt, weigerte sich bislang hartnäckig gegen eine Neuauflage. Bislang. »Alle Versuche sind im Sande verlaufen«, äußert sich Hemmerle dazu. »Auch während der Intendanz von Jürgen Flügge vor über 20 Jahren war eine Bühnenfassung angedacht, es waren sogar bereits Proben angesetzt. Bevor es dazu kommen konnte, wurde das Stück aber doch wieder abgesetzt.« Damit seiner Adaption nicht ein ähnliches Schicksal widerfährt, zeigt sich der Regisseur durch die Ereignisse um »Macbeth« durchaus vorbereitet: »Wie man in England stets nur von ‘The Scottish play‘ spricht, haben wir angefangen, nur noch von dem ‘schwäbischen Stück‘ zu sprechen. Nur um sicherzugehen.« Mit mäßigem Erfolg: Die Premiere des Sommertheaters fiel sprichwörtlich ins Wasser. Im zweiten Anlauf konnte Hemmerle den Fluch jedoch erfolgreich besiegen.
Endlich hat Esslingen also wieder eine zeitgemäße Fassung dieser wohl bekanntesten Sage der Stadt. Das einfachste Stück dürfte es für Hemmerle dennoch nicht gewesen sein. »Der Stoff hat eine lange Historie und eine gewaltige Erwartungshaltung«, weiß er. »Eine Vorbelas-tung geradezu.« Da wird es gewiss die einen geben, die ihren »Postmichel« klassisch und altmodisch inszeniert haben möchten. Für die zeigt der Regisseur allerdings wenig Verständnis: »Theater ist immer ein Spiel mit Erwartungen. Das möchte ich ausreizen. Ich finde die Frage spannend, wie viel Irritation gut ist, wie viel Irritation ein Stück auch braucht, um eine gewisse Reibung herzustellen.«
Diese Irritation fängt gewiss schon bei der Wahl des Stoffes für das große Sommertheater unter freiem Himmel an. Mord, Lügen und Schuldgefühle statt locker-leichter Open-Air-Kost. Auch die zweite Zeitebene in Form einer heutigen Ausgrabung, die in die Textfassung des Autors und Bienzle-Schöpfers Felix Huby integriert und mit ihr verwoben wurde, zeugt von dem ehrlichen Bestreben, etwas Neues aus diesem altbekannten Stoff herauszukitzeln. »Jeder hier kennt diese Geschichte, zudem ist sie simpel und schnell erzählt, entscheidend ist deswegen das ‘Wie‘«, meint der Regisseur dazu. Neben der Inszenierung ist ihm dabei besonders die Substanz wichtig, die zwischen den Zeilen zu finden ist. »Hier fasziniert mich insbesondere die lebenslange Beziehung zwischen Opfer und Täter. Der Täter lebt weiter, wird 90 Jahre alt und kann sich doch nie befreien. Das tolle Leben, wofür er gemordet hat, kann er überhaupt nicht genießen, die Schuld sitzt ihm bis ans Ende seiner Tage im Nacken.«
Mord, Lügen und Schuldgefühle
Zentral ist für den Regisseur dabei der Satz »Wir haben ein ganzes Leben miteinander verbracht.« Für ihn kommt das einer Ehe gleich, einem Lebensbund zwischen Täter und Opfer, der nur aufgelöst wird, wenn die Wahrheit ans Licht kommt. Bis es soweit ist, so will es die Legende, wird der Unschuldige jedes Jahr in der Michaelisnacht zu Stuttgart blasen, bis der Schuldige seine Tat gesteht. Christopher Sturm
Der Postmichel (Uraufführung) Vorstellungen noch bis Do. 30. Juli, Kessler-Platz,
Esslingen, www.wlb-esslingen.de